: Das „süße Leben“ der Armen
■ „Sozialkriminelle“: Die AbzockerInnen sitzen eher in Arztpraxen
„Die Diskussion über ,Mißbrauch' wird immer dann hochgekocht, wenn der Sozialstaat weiter abgebaut werden soll. Sie ist sozusagen eine Overtüre zum Streichkonzert.“ Diejenigen, die am Sozialsystem verdienen, sitzen eher in Arztpraxen als auf Sozialamtsfluren. Das war das Fazit, das der Soziologe Lutz Leisering am Ende der Tagung über „Mißbrauch in der Sozialhilfe“ zog. Dazu hatte die Aktionsgemeinschaft arbeitsloser BürgerInnen e.V. (AGAB) in der letzten Woche eingeladen.
Die Treibjagd auf Alte, Kranke, Arbeitslose, Obdachlose und Flüchtlinge sei eröffnet, so der Soziologe von der Bremer Uni. Den letzten Anlaß für den großen Ärger hatte ein Artikel im „Focus“ vom Oktober dieses Jahres über „das süße Leben der Sozialschmarotzer“ geliefert. Die von „Focus“ genannte Zahl von 150 Milliarden Mark, die dem Staat 1994 durch Mißbrauch verlorengegangen sein soll, sei eine „Phantasiezahl“, in der das Delikt Steuerhinterziehung einbezogen sei. Das hätte aber mit dem sogenannten „Sozialbetrug“ nichts zu tun. Nach „Focus“ wurde der Mißbrauch auf 15 bis 20 Prozent der Sozialleistungen geschätzt.
„Es gibt empirische Befunde“, referierte Leisering dagegen, „die eindeutig in eine andere Richtung zeigen“. Da wäre unter anderem eine Vergleichstudie BRD-USA der Bremer Wissenschaftler Wolfgang Voges und Greg Duncan. Das Ergebnis: Deutsche Alleinerziehende stehen nicht länger im Sozialhilfebezug als amerikanische. Der mittlere Wert betrage in beiden Ländern 24 Monate und dies, obwohl die Sozialhilfe in den USA 27 Prozent eines durchschnittlichen Einkommens beträgt, während der Sozialstaat BRD 47 Prozent zahlt.
„Macht Sozialhilfe süchtig?“ wurde gefragt. „Wohngeld als Einstiegsdroge“, witzelte sofort eine Teilnehmerin. Dagegen steht, daß die meisten Menschen sich eher schämen, zum „Sozi“ zu gehen. „Die Dunkelziffer der Bedürftigen, die Unterstützung nicht in Anspruch nehmen, wird auf 30 bis 50 Prozent geschätzt“, meinte Leisering. Das Münchner Institut Infratest habe nachgewiesen, daß 30 Prozent der alten Menschen ihren Anspruch auf Sozialhilfe nicht wahrnehmen würden.
„Die Abzocker sind ganz andere“ war dann auch Leiserings Schlußfolgerung: Organisierte Sozialanbieter wie Ärzte, private Kliniken, Heime oder Pharmakonzerne könnten sich in weit größerem Stil in öffentlichen Kassen bedienen. Eine Zeile in einer Steuererklärung, eine Ziffer in einer Arztabrechnung könne mehr einbringen, als jahrelanger „Mißbrauch“ in der Sozialhilfe.
Begriffe wie „Sozialschmarotzer“, „soziale Hängematte“ oder „Sozialkriminelle“ seien politische Kampfbegriffe, resümierte Leisering. „Menschen beziehen Sozialhilfe wegen Scheidung, Krankheit oder Erziehung eines Kindes - eben dafür sind soziale Sicherungssysteme geschaffen worden! Mißbrauchsdebatten verhindern die Diskussion um Armut und Not, die dringend notwendig ist.“ MaC
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