: Charly frißt Charlie Von Ralf Sotscheck
Londons verschachtelte U-Bahnhöfe mit ihren schmuddeligen Gängen und abgrundtiefen Rolltreppen sind wenig vertrauenerweckend. Doch der Betontunnel, der vom Bahnhof Tower Hill zu der alten Festung führt, wirkt besonders düster. Der Tower ist eigentlich gar kein Teil der englischen Hauptstadt: Er hat seinen eigenen Gouverneur, seine eigene Armee und Kirche – und früher hatte er auch seinen eigenen Henker. Die Liste der Menschen, denen in diesem Gemäuer der Kopf abgeschlagen wurde, ist recht stattlich: Könige und Königinnen, Thronfolger und Adlige, Verräter und Spione. Und eine ganze Menge Unschuldiger. Der letzte, der im Tower hingerichtet wurde, war Josef Jakobs, ein Nazispion. Freilich ließ man ihm seinen Kopf: Er wurde erschossen.
Weite Teile des Towers werden demnächst dichtgemacht: Das alte Gemäuer soll generalüberholt werden. Ziel ist es, den Besuchern noch mehr Zeit und Geld abzuluchsen. Der offizielle Tower-Historiker Geoffrey Parnell hält nicht viel von dem Projekt: Es sei „historisch ziemlich wertlos“. Ein anderer Archäologe meint gar, der Tower mutiere „immer mehr zum Disneyland“. Dabei sei er in Wirklichkeit „der elendste Ort in London“.
Mehrere hundert Menschen leben an diesem elenden Ort – und sechs Raben. Diese schrägen Vögel sind für das Überleben der Monarchie verantwortlich. Die abenteuerliche Kette von Peinlichkeiten, von denen die Windsors in letzter Zeit heimgesucht wurden, kann man den Tieren aber nicht ankreiden. Schließlich handelt es sich nur um eine Sage: Früher soll es Tausende von Raben im Tower gegeben haben. Weil Charles II., der in der Nacht vor seiner Krönung im Weißen Turm übernachtete, der Lärm der Tiere auf die Nerven ging, ließ er sie kurzerhand umbringen. Einer Überlieferung zufolge, so wußte Charles, fällt jedoch die Monarchie, wenn die Raben aus dem Tower verschwinden. Um auf Nummer Sicher zu gehen, behielt er sechs Vögel.
Mit der Prophezeiung ist es aber nicht weit her. Während des Zweiten Weltkriegs war der Tower nämlich eine Weile rabenlos, und die Monarchie hat trotzdem – wenn auch nur knapp – überlebt. Offenbar will man das Risiko kein zweites Mal eingehen: Ein Rabenvater wacht seitdem darüber, daß die Tiere nicht abhauen und Königin und Vaterland im Stich lassen. Das würde ihnen auch schwerfallen: Einmal in der Woche wird ihnen der linke Flügel gestutzt. Falls dennoch alle Stricke reißen, stehen zwei Tiere in Reserve. Die neuen Ersatzvögel wurden jetzt zum erstenmal der Öffentlichkeit vorgestellt: Thor und Odin heißen sie.
Munin und Hugin, die den Posten bisher bekleidet hatten, sind zu Raben ersten Ranges befördert worden, weil zwei Tiere aus dem Monarchieschutzgeschwader ausgefallen sind: Der eine, Jackie, war zu streitsüchtig und wurde in einen walisischen Zoo ins Exil geschickt. Der andere, Charlie, fiel einem Polizeihund auf Bombensuche zum Opfer. Der Rabenmord machte nicht nur in der Boulevardpresse Schlagzeilen. Vermutlich wäre es um die englische Monarchie besser bestellt, hätte der Hund statt dessen den Thronfolger Charlie Windsor aufgefressen. Ironie des Schicksals: Der rabenfressende Beamtenhund hieß ebenfalls Charly, aber mit y.
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