: Das Theater spielt sich selbst
Kein Risiko: Andrea Breth inszeniert Tschechows „Die Möwe“ an der Schaubühne ■ Von Esther Slevogt
Am Freitag abend kam an der Berliner Schaubühne Andrea Breths mit Spannung erwartete Inszenierung von Tschechows „Die Möwe“ heraus. Tschechow an der Schaubühne, das weckt nicht von ungefähr die Erinnerung an zwei legendäre Inszenierungen Peter Steins: „Drei Schwestern“ (1984) und „Kirschgarten“ (1989). Besonders die zunächst hochgelobten „Drei Schwestern“ führten bald zu einem radikalen Umbruch in der Bewertung von Schaubühnen- Inszenierungen. „Die Hybris verschlingt das Theater“, schrieb die Berliner Kritikerin Sibylle Wirsing damals in ihrem berühmten Verriß dieser Inszenierung. Und der Begriff Hybris, der ja sowohl Überzüchtung als auch Hochmut bedeutet, beschreibt das Stigma, welches der Schaubühne seitdem anhaftet, wohl am besten. Sogar Kritiker, die zunächst die „Drei Schwestern“ bejubelt hatten, räumten später ein, auf die Inszenierung hereingefallen zu sein. Der Illusionismus der Steinschen Tschechow-Inszenierungen hatte Mißtrauen geweckt. Die meist hochklassigen Theaterabende der Schaubühne genoß man fortan wie Luxusgüter, Designermode für das Hirn. Der Kontakt zur Welt aber war abgerissen. Für das Theater ein absolut tödlicher Zustand.
Daß nach zehn Krisenjahren nun eine neue Ära eingeleitet werden soll, wurde spätestens klar, als Andrea Breth drei Tage vor der Premiere ihrer Inszenierung ins Schaubühnenfoyer zum Pressegespräch lud. Ein Novum in der Geschichte des Hauses. Und da saß sie nun inmitten der zahlreich erschienenen Journaille und beantwortete Fragen. Wohlwollend, aber doch sichtlich verwundert über die Banalität der Welt, deren Abgesandte plötzlich vor ihr saßen. Man könnte nun einwenden, daß jemand, der Journalisten ohnehin für Idioten hält, lieber keine Pressekonferenzen veranstalten sollte. Aber man soll kein Spielverderber sein und den guten Vorsatz („Wir wollen das Haus öffnen“) hier ausdrücklich würdigen. „Ohne Theater geht es nicht!“ Ein kleiner Satz am Rande eines großen Plädoyers für neue Formen in der Kunst. Andrea Breth hatte ihn schon in ihrer Pressekonferenz als Köder ausgeworfen. Denn seit die Kassen leer sind und Kultureinrichtungen von der Abwicklung bedroht sind, ist die subventionierte Kunst in einen Erklärungsnotstand geraten, weil sie ihren Stellenwert als geistiges Grundnahrungsmittel der Gesellschaft plötzlich unter Beweis stellen muß. Da sind kräftige Positionen gefragt.
In Tschechows „Möwe“ sind die Menschen süchtig nach Kunst. Sie müssen schreiben, sie müssen Theater spielen. Wer es nicht tat oder nicht geschafft hat, hält sein Leben für versäumt. Und wer liebt, liebt den anderen nicht um seiner selbst willen, sondern den Künstler in ihm.
In Berlin hat Gisbert Jäkel eine Bühne gebaut, die mit dem akribischen Realismus vergangener Tschechow-Ibsen-Schnitzler-Inszenierungen nichts mehr zu tun hat. Eine Bühne, weit und überwältigend blau. Das Theater spielt sich selbst: ein leerer Raum in Erwartung einer Aufführung. Auch die Darsteller betreten ihn zunächst als Zuschauer. Irina Arkadina (Libgart Schwarz), eine gefeierte Schauspielerin, und Gutsbesitzer Sorin (Michael König), ihr Bruder. Trigorin (Wolfgang Michael), ein berühmter Schriftsteller und Liebhaber der Arkadina, und Mascha (Corinna Kirchhoff), die Tochter des Gutsverwalters. Kostja (Ulrich Matthes), Arkadinas Sohn, hat ein Stück geschrieben, und Nina (Imogen Kogge), die er liebt, soll die Hauptrolle spielen. Doch die Inszenierung fällt durch, und der gekränkte Dichter versucht, sich das Leben zu nehmen.
Die Abstraktion aber, welche die Bühne verspricht, löst die Inszenierung nicht ein. Es scheint, als fehle der Inszenatorin ohne die gewohnten Requisiten der Halt. Und so kehrt der Realismus als Geräuschkulisse zurück, mit Stimmen, Tönen und Musik aus dem Hintergrund. Die Schauspieler geben nur, was sie dem alten Tschechow und dem Ruf ihres Theaters schuldig sind. Und auch die Kostümbildnerin Florence von Gerkan geht kein Risiko ein und setzt auf bewährte Detailtreue. So wird man wiederum Zeuge einer kühlen Kunstanstrengung. Die Fragen, die versprochen waren, wurden nicht gestellt. Der Beginn der neuen Ära steht noch aus.
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