Europa: Augen zu und durch

Die wachsende Abneigung der EU-Europäer gegen die Union wird von den Berufs- europäern zwar registriert, aber nicht ernstgenommen  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Wie die Stimmung draußen ist, weiß man in Brüssel bis auf die Kommastelle genau. In schöner Regelmäßigkeit liefert das Statistische Amt der EU ein Eurobarometer über die öffentliche Meinung in der Union. Da steht dann, daß in Dänemark 58 Prozent der Bevölkerung noch nie etwas vom Europäischen Gerichtshof gehört haben und in Griechenland nur 39,2 Prozent eine Ahnung haben, was die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) beinhaltet. Und irgendwo dazwischen kann man auch nachlesen, daß die Zustimmung zur Europäischen Union in fast allen Mitgliedsländern noch nie so niedrig war wie heute.

Die Stimmung ist schlecht, das wissen auch die Berufseuropäer in Brüssel. „Für immer mehr Europäer ist der Sinn einer weiteren Integration der EU nicht mehr selbstverständlich“, hat die Reflexionsgruppe aus hochrangigen Regierungsvertretern der Mitgliedsländer festgestellt. „Wir müssen deshalb den Bürgern erklären, warum die Europäische Union, die für andere Europäer so attraktiv ist, auch für uns notwendig bleibt.“ Mit den „anderen Europäern“ sind übrigens die mittel- und osteuropäischen Länder gemeint, die gerne aufgenommen werden würden.

Die Politiker und Beamten in Brüssel fühlen sich unverstanden. Die EU-Kommission, das Europaparlament, selbst einige Mitgliedsregierungen fordern deshalb immer wieder eine breitangelegte Informationskampagne, um die Bürger von den Segnungen der EU zu überzeugen. Doch Skeptiker warnen. In keinem anderen Land sei die Bevölkerung mit soviel Aufklärungsmaterial über die EU zugeschüttet worden wie in Dänemark vor dem Maastricht-Referendum. Mit dem Ergebnis, daß eine Mehrheit gegen den Vertrag gestimmt hat.

Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der in der EU derzeit unbestreitbar den Takt vorgibt, glaubt deshalb auch, daß es an etwas ganz anderem fehlt. Für ihn reduziert sich die Frage nach dem Nutzen der Union auf die schlichte Alternative: Krieg oder Frieden. Dafür müsse man eben auch ein paar weniger attraktive Dinge wie die systembedingte Betrugsanfälligkeit in Kauf nehmen, so der Kanzler. Doch weil 60 Prozent der Bevölkerung zu jung seien, um den Krieg aus eigener Erfahrung zu kennen und auch sonst die Vorteile der EU – etwa Reisefreiheit oder Konsumvielfalt – für gottgegeben nehme, müßten andere, sichtbare Zeichen her. Die Bekämpfung der internationalen Kriminalität durch eine Euro-Polizei ist für Kohl längst zum Inbegriff der friedensstiftenden Botschaft geworden, mit der er die Bürger für die europäische Idee zurückgewinnen will.

Doch leider sehen das die Briten anders. Sie halten Freihandel an sich für die beste Konfliktvermeidung und alles andere für Unruhestiftung. Die französische Regierung will zwar eine stärkere Union, schon allein um die Wirtschaftsmacht Deutschland zu bändigen, hat aber zu Hause ein Problem, das es ihr schwermacht, offen für die EU einzutreten.

Die Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen und sozialer Absicherung – die durch die Sparprogramme für die Währungsunion noch geschürt wird – können die meisten Euro-Politiker den EU- Bürgern nicht nehmen. Langfristig, so die stereotype Argumentation der EU-Kommission, sichere die Stabilitätspolitik die Wettbewerbsfähigkeit und schaffe neue Arbeitsplätze.

Daß es bei der EU-Politik der Marktöffnung und Deregulierung auch Verlierer gibt, vor allem in traditionell arbeitsintensiven Branchen wie Stahl oder Textil sowie im gesamten Staatssektor und in der Landwirtschaft, wird auch in schriftlichen Analysen allenfalls vornehm umschrieben. Man will die Bevölkerung nicht noch mehr beunruhigen.

Politiker wie Kommissionsbeamte der Europäischen Union setzen in ihrer Mehrheit darauf, daß die Proteststürme vorübergehen und sich die Vernunft durchsetzt. Sie vertrauen darauf, daß sich die Bevölkerung, wenn es darauf ankommt, wieder auf die Errungenschaften der Europäischen Union besinnt. Schließlich hat auch Dänemark im zweiten Anlauf für den Maastrichter Vertrag gestimmt.