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Auf die Tiefe kommt es an

■ Therapeutische Ochsentour im Stil der 90er: Tele-Seelsorger Jürgen Fliege betreibt neuerdings "Spurensuche" - in traurigen Schicksalen (21.45 Uhr, ARD)

In den achtziger Jahren war das Fernsehen ein Spiegelbild der bundesrepublikanischen Aufstiegsgesellschaft. Man genoß die Vielfalt der Lebensstile und feierte sich mit Eleganz und Beredsamkeit in einer Synthese aus Information und Inszenierung. Der Tempel dieser elektronischen Zivilisiertheit war das Talk-Show-Studio.

Die zentrale Kategorie der neunziger Jahre heißt Schicksal. Man muß nicht unbedingt etwas zu sagen haben, es reicht schon aus, daß einem etwas widerfahren ist. Seither wird viel geschluchzt im Fernsehen – Weinen mit Schreinemakers, Stammeln bei Wontorra ...

Lebenspraktische Fatalität steigert die mediale Anziehungskraft, und deutsches Gemütsfernsehen ist längst kein Privileg privater Anbieter mehr. So erfahren wir denn im ARD-Nachmittagstalk „Fliege“ alles aus den seelischen Notstandsgebieten der Republik. Diskriminierte sowie Geschädigte aller Art erfahren Beistand, vorausgesetzt, sie sind mitteilsam. Wer die moderne Form der Beichte vollzieht, darf mit der gefühligen Wärme des Moderators Jürgen Fliege, von Beruf Pfarrer, rechnen. Je größer das psychosoziale Elend, desto einfühlsamer das Timbre. Die Kummerhäppchen am Nachmittag reichten dem professionellen Seelsorger aber nicht. Im Pressetext zu seiner neuen Sendung heißt es: „In meiner Talk-Show ,Fliege‘ ist es mir meist durch die Anzahl der Gäste nicht möglich, mich ausführlich mit dem Schicksal einer einzelnen Person zu beschäftigen. In ,Spurensuche‘ habe ich die Gelegenheit, den Lebensweg eines Menschen zurückzuverfolgen und dank eines umfangreichen Rechercheteams weiße Flecken in der Vergangenheit zu füllen.“

Nicht aufs Thema, auf die Tiefe kommt es an. Gleich im ersten Teil seiner „Spurensuche“ bringt Fliege seine fürsorgliche Omnipotenz in Stellung. Werner von Reis, 52, ist das Kind eines deutschen Soldaten und einer Norwegerin, gezeugt im Auftrag des Naziphantasmas „Lebensborn“, mit dessen Hilfe die arische Rasse fortgepflanzt werden sollte. Allein in Norwegen zählte man nach Kriegsende rund 9.000 solcher „Kinder der Schande“, deren Schicksal fortan von Heimaufenthalten, Adoption und Pflegefamilien bestimmt war.

Flieges „Spurensuche“ taucht ein in Werner von Reis' Biographie, die ein erschütterndes Zeugnis einer seelischen Zurichtung ist. Die Suche nach familiärer Geborgenheit hört für den Jungen auch nach Kriegsende nicht auf. Von den Pflegeeltern wird er fortgeholt, weil die norwegischen Behörden Ansprüche anmelden, und Werners leibliche Mutter will vom Kind des deutschen Soldaten nichts wissen. Es wird zur Adoption freigegeben und kommt – wiederum nur vorübergehend – in die schwedische Familie von Reis. Werner wächst schließlich in Sachsen auf und arbeitet fast 30 Jahre im Kraftwerk Espenhain. Als die Mauer fällt, eröffnet sich ihm die Chance, seine Eltern zu suchen.

Jürgen Fliege begleitet Werner von Reis bei seiner Reise in die Vergangenheit, eine therapeutische Ochsentour. Die Kamera scheint allgegenwärtig, immer wieder Tränen, Sprachlosigkeit, hilflose Gebärden. Eine Dokumentation über ein im Einzelfall erschreckendes, bis heute politisch brisantes Thema wäre die angemessene Fernsehverarbeitung in den achtziger Jahren gewesen. Sie hätte historisch genau und psychologisch sensibel sein müssen. Das Reality-TV der Neunziger geht anders vor. Fliege politisch: „Es geht in ,Spurensuche‘ um die Geschichte eines Volkes anhand des Schmerzes von einzelnen.“ An diese Geschichte, heißt es, wollte man ganz nah heran, die Erinnerung soll sensibel bleiben. Was man jedoch zu sehen bekommt, ist ein traumatisiertes Individuum im Gestrüpp von Erinnern und Verdrängen. Nach seinen vier Kindern aus erster Ehe befragt, erinnert Werner von Reis sich nicht einmal an deren Namen. Der Mann, der seine Mutter sucht, will von seiner eigenen Familie nichts wissen. Doch derartige Kontextlücken spielen für die Machart von „Spurensuche“ keine große Rolle. So dürftig die Werner-von-Reis-Biographie zum Vorschein kommt, so unbefriedigend wird auch die Geschichte des norwegischen „Lebensborn“ rekonstruiert. Das sei eine Frage der Stoffülle gewesen, sagt Fliege. Aus 30 Stunden Material habe man 45 Minuten auswählen müssen. Einmal stand Pfarrer Fliege, der von Reis über das Projekt hinaus seelsorgerisch betreuen wird, kurz davor, die Dreharbeiten abzubrechen. Eine psychotherapeutische Begleitung des Projekts gab es nicht, und Werners Geschichte sei dem ganzen Team nahe gegangen, heißt es. Sie wird auch die FernsehzuschauerInnen nicht kalt lassen.

In Werners Lebensgeschichte erkennt man die eigene Schicksalsfähigkeit, das stiftet anthropologische Solidarität – die Erfolgsgarantie für das Gemütsfernsehen. Was „Spurensuche“ als politischen Anspruch formuliert – Geschichte an der Schmerzgrenze – ist das Passepartout gegenwärtigen Fernsehselbstverständnisses: Authentizität. Und doch ist der starre Blick aufs Echte und Erlebte in „Spurensuche“ nicht allein dem Kampf um Quote und Kommerz geschuldet.

In den siebziger Jahren glaubte man mit authentischem Selbsterleben wirksam gegen technokratische Abstraktionen rebellieren zu können. Das zeitgenössische Reality-TV, zumindest in der Fliegeschen Variante, ist nun eben dieser im alternativen Lebensmilieu gepflegten, narzißtischen Selbstbesinnung entsprungen. Die Fernsehunterweisungen der Neunziger riechen deshalb wieder stark nach den Selbsterfahrungsgruppen der Siebziger – die Sitzung wird fortgesetzt. O Herr, schick Werbeunterbrechungen! Harry Nutt

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