: Kulturell wertvolle Geschichtspopper
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit führt der kürzeste Weg über einen Klassiker: Mit dem Beatles-Dreiteiler „Anthology“ setzt das selbst in den Sixties geborene ZDF auf Image-Transfer (22./25./28.12., 22 bzw. 22.15 Uhr, ZDF) ■ Von Thomas Groß
Der Tote hat auch hier den ersten Song. „There are places I remember“, singt John Lennon in die flackernden Bilder eines kriegszerstörten Liverpool hinein, die sich immer schneller mit weiteren mischen – den „Faces“, den „Lovers and Friends“, die in der Erinnerung die Szenerie bevölkern: „Some are dead and some are living“ – und zack! Schon haben sie dich. Schon kriecht der erste Schauer über den Rücken.
Geschickt gemacht, dieser Auftakt zu „Anthology“, dem mehrstündigen Video-Dokumentationsprojekt der Beatles: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit führt der kürzeste Weg über einen Klassiker. Und nicht nur das: Es ist die Kluft zwischen dem Song und seiner Lesbarkeit als Testament, die sich dem Rücken als Thrill mitteilt. Man weiß längst, was der Sänger noch nicht wußte: wie die Geschichte ausgeht. Wundert sich also überhaupt nicht, wenn nach dem Traumbild des Vorspanns – vier stumm agierende, winzige Schwarzweiß-Beatles vor einem monströsen Wall of Teenagerkreischen – die Schnitte immer rasanter werden, bis zuletzt alles zu einem einzigen Augenblick zusammenschnurrt: „I saw a film today, oh boy ...“ Hat die Wissenschaft nicht festgestellt, daß genau solche Bilderfluchten im Moment des Todes ablaufen?
Den Überlebenden kommt das zugute. Die „Abgeschlossenheit der Geschichte“ habe ihm an den Beatles immer besonders gut gefallen, verrät Paul McCartney der Kamera. Zehn runde Jahre war die berühmteste Band der Welt zusammen, eine Dekade als Ära, die „Anthology“ in Interviews mit den Rest-Beatles (plus Produzent George Martin und Apple-Chef Neil Aspinall, aber ohne Yoko) und reichlich Doku-Material erzählt. Historische Szenen am laufenden Band: Wie alles anfing, Keller in Liverpool, Lehrjahre in Hamburg, erster Ruhm. John Lennon, wie er den britischen Adel auffordert, „mit den Juwelen zu rasseln“ (er muß die Szene lange geübt haben). Dann Beatles over America, Beatles größer als Jesus, Beatles als Studioavantgardisten – eine Erfolgsstory fast ohne Niedergang. Als es in den Siebzigern zäh wurde, war alles auch schon vorbei, das Rad hatte sich einmal gedreht, wie der fernöstlich inspirierte George Harrison formuliert – und nicht mal zu Unrecht. Die Beatles waren sozusagen die Hochmoderne der Postmoderne, das macht sie heute zu Garanten für kollektive Gänsehaut. Verständlich also, daß man beim ZDF, das sich die deutschen Senderechte gesichert hat, auf Image- Transfer setzt. „Osmotisch“ sei das Verhältnis der Beatles zu ihrer Zeit gewesen, erläuterte Volker Panzer, langhaarig ergrauter Ressortchef „Kultur und Wissenschaft“, bei der bundesweit einzigen „Anthology“-Pre-Looking- Session am vorletzten Mittwoch in der Berliner Akademie der Künste. Die Beatles – nicht etwa simple Unterhaltungsnudler, sondern kulturell wertvolle Geschichtspopper, „Handlanger des Weltgeists“ gar, die „der Modernität des 20. Jahrhunderts zur Melodie verholfen haben“. Deshalb, schloß Panzer messerscharf, sei „Anthology“ das ideale Programm für öffentlich- rechtliche Sender: niveauvoll, gehaltreich, frei von häßlicher Werbung. Ein Punkt, der am Ende auch den Zuschlag fürs ZDF gebracht haben soll: Man habe in England einfach einsehen müssen, „daß wir Verrückte sind“.
Die Ausstrahlung der Beatles- Geschichte als Ehrensache unter Sixties-Musikfreaks? Eine Vorliebe wäscht die andere? Die alte Idealistennummer? Schön wär's. Zwar kam das ZDF mit seinem Deal (Panzer: „exakt zwischen zwei und drei Millionen“) vergleichsweise günstig davon (ABC soll für die USA 20 Millionen geboten haben – Dollar!), doch ansonsten ist keine Epoche härter umkämpft als die Sechziger. 2.500 Rollen Beatles-Filmmaterial hat ein elfköpfiges Spezialteam bei Apple in zähen Verhandlungen aus allen möglichen Ecken der Welt zusammengekauft – mitsamt der Rechte, versteht sich. Und vielleicht ist es doch kein Zufall, daß die Firma der Beatles genauso heißt wie das Unternehmen, das die Errungenschaft der Benutzeroberfläche erstmals in die digitale Bildbearbeitung eingeführt hat. In Zeiten, in denen der Hunger nach Vergangenheit groß ist, die Zukunft der Online-Dienste aber gerade erst begonnen hat, macht es nicht nur für Bill Gates Sinn, in Bildrechte zu investieren. Von diesem Hintergrund sind in „Anthology“ selbst nur Spuren geblieben – etwa der Hinweis im Nachspann, „Name and Likeness“ John Lennons erschienen „Courtesy of the John Lennon Estate“ (was ein wenig feudal klingt). Im Klartext heißt das: Yoko Ono hat sich – gegen ein solides Entgelt, wie man annehmen darf – damit einverstanden erklärt, im Schatten des Körpers des Königs zu bleiben und die Rest-Beatles unbehelligt ihre Version der Story erzählen zu lassen. In Ringo Starrs Worten: „Jedermann und sein Onkel haben ihre Geschichte über uns erzählt – now hear it from us!“
Nun mag sich zwar das „Recht am eigenen Bild“ kaufen lassen, nicht aber der Anspruch auf historische Wahrheit. In „Anthology“ erinnern sich drei aufgeräumte, im übrigen wenig vorteilhaft gekleidete ältere Herren (McCartneys rosa T-Shirt!) an Gründertage, Zeitläufte und wie es so war, als Amerika in der Schlacht im Shea Stadium in die Knie gezwungen wurde – von der sonstigen Zeitgeschichte dringt erstaunlich wenig nach innen. Die Sechziger finden in „Anthology“ ohne den Vietnamkrieg statt, ohne Bürgerrechtsbewegung, Minimoden, Politik und Raumfahrt, die Beatles sind Männer ohne Frauen, die von einer rätselhaften Woge der Teenagergunst emporgetragen werden, bis der Rausch vorbei ist und alle sich die Augen reiben.
Ein Märchen also? Es hat schon etwas objektiv Ironisches und auch Phantastisches, wie die drei zerknitterten Veteranen in den Abbey-Road-Studios vor den Bandmaschinen sitzen, antikes Low-Tech wie der Kontrollraum von Houston zu Zeiten von Apollo 12, und offenbar bis heute nicht wirklich wissen, wie ihnen geschah. Fing alles mit den Traumgitarren an, die George Harrison in ein Schulheft zeichnete? Als Ringo dazukam? Oder als sie Brian Epstein begegneten? Was hat es zu bedeuten, daß John Lennon während eines Bombenangriffs geboren wurde? Stimmt es überhaupt? Und was sagt die Mediengeschichte dazu? Die tieferen Problematiken der Beatles-Forschung erscheinen in „Anthology“ auch bloß als Haufen erst noch zu deutender Bilder.
Das heißt natürlich umgekehrt, daß die Sache absolut unverzichtbar ist – als Weihnachtsdreiteiler, Kriegsbericht und Geschichtsbaukasten für den kleinen Beatles- Freund: Ihr Bilderlein kommet – „in my life I've loved them all“.
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