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Rennpferde donnern mit 70 km/h durchs Hochmoor

■ Middleham im nordenglischen Yorkshire ist schon seit Jahrhunderten ein Zentrum des Reitsports

Morgenspaziergang über die breite Ebene des Hochmoors. Um uns herum summen Bienen, eine Lerche singt, Schafe grasen. Alle paar Dutzend Meter stecken kleine weiße oder schwarze Plastiktäfelchen im Grasboden, immer zwei einander gegenüber. Sie kennzeichnen eine Rennbahn für Pferde, und das heißt: Ausschau halten! „Gallops“, Galoppstrecke, weist die Wanderkarte für dieses Gebiet aus. Der Boden beginnt zu vibrieren. Trappelnde Hufe, die immer näher kommen. Erst sind es zwei Pferde hintereinander, dann kommt eine Vierergruppe. Die Jockeys stehen in ihren Sätteln.

Wir waren zum Wandern nach Wensleydale ins nordenglische Yorkshire gekommen, denn die zahlreichen Wanderwege über die Bergrücken und Hochmoore des Yorkshire Dales Nationalparks sind berühmt.

„Bitte nicht zu nah an die Rennstrecke herantreten!“ ruft eine Reiterin. Sie seien gerade mit den zweijährigen, unerfahrenen Pferden unterwegs, warnt sie uns – nervöse Vollblüter, die sich noch leicht ablenken ließen. Wir ziehen uns mit unserem Picknick etwas zurück. Nahe am Ziel können wir hören, wie die Pferde beim Endspurt durch ihre Nüstern prusten. Einigen steht nach der Anstrengung Schaum vor dem Maul, bei anderen sind die Flanken dunkel vom Schweiß.

Jeden Tag werden im Hochmoor von Middleham Rennpferde trainiert. Im Morgendunst donnern sie mit 60 bis 70 Stundenkilometern an einem vorbei. In wenigen Minuten haben sie die Rennstrecke hinter sich gebracht, dann reiten die Pferdeburschen und Pferdepflegerinnen sie langsam zurück zu den Stallungen.

Wir weichen Reitern aus, die auf ihren Pferden hoch über die Trockensteinmauern an den kurvigen Straßen aufragen, finden öffentliche Reitwege auf der Wanderkarte und Straßenschilder mit dem Abbild galoppierender Pferde. Die Schloßruine von Middleham, einstmals Heim des berüchtigten Königs Richard III. („Ein Pferd, ein Pferd, mein Königreich für ein Pferd!“), über den Shakespeare ein Drama verfaßte, mußte im Lauf der Zeit Steine für Pferdeställe lassen, die gleich an die Burgmauer angebaut wurden. Jeder Andenkenladen verkauft Fotos und Nippes von berühmten Pferden, Jockeys und Trainern. Wir sind hier in Nordengland im Zentrum des Pferdesports.

14 Pferdetrainer, darunter zwei Frauen, haben im Umkreis von Middleham ihre Rennställe und Koppeln. Chris Thornton ist einer von ihnen. Der hagere, lang aufgeschossene Engländer, der früher zwei Jahre lang im Gestüt Röttgen bei Köln mit dem damaligen Trainer Theo Grieper zusammenarbeitete, gewann mit seinen Pferden bisher 500 Rennen. Sein Hof grenzt direkt an die Trainingsstrecke im Hochmoor. Thornton trainiert 35 Rennpferde für deren Besitzer. Unterstützt von Ehefrau Antonia, Futtermeister George Fowler und 15 Angestellten.

Jeden Morgen ab 7 Uhr schickt Thornton seine Pferdepfleger dreimal mit jeweils anderen Pferden zum Ausritt. Kurz darauf fährt er selbst mit dem Geländewagen und seinem Foxterrier hinterher (die meisten anderen Trainer haben kleine weiße Jack-Russell-Hunde mit braunen und schwarzen Flecken) und beobachtet am Rand der Galoppstrecke, wie sich die Tiere machen. „Middleham entwickelte sich schon vor vier-, fünfhundert Jahren zum Trainingszentrum“, erzählt uns Thornton stolz, „noch vor Newmarket im Süden, das heute das größte ist. Wir im Norden sind aber älter, nicht nur, weil unsere Torfböden hier im Moor so gut sind für das Training der Pferde, sondern weil der Pferdesport ursprünglich ein Vergnügen der adeligen Landbesitzer war, die damals vor allem im reichen Norden Englands lebten.“

Ein eigenes Rennpferd zu besitzen, das ist vielen Briten auch heute noch erstrebenswert. Auch wenn sie nicht soviel Geld haben wie die arabischen Scheichs, die inzwischen viele der Spitzenpferde ihr eigen nennen, nicht nur in England. Man kann aber auch, wie im Fall eines der von Chris Thornton trainierten Tiere, nur ein Sechzigstel eines Pferdes besitzen, wenn man mit 59 anderen Pferdenarren eine Eignergemeinschaft bildet. Zum Rennpferd ausbilden läßt man sein Pferd dann bei einem Trainer, der es reiten läßt und zu Rennen anmeldet. Das kostet rund 350 Mark pro Woche. Dafür darf man sich beim Rennen in der Eignerloge des Rennplatzes aufhalten, und wenn das eigene Pferd gewinnt, nimmt man zumindest ein Sechzigstel des Preisgeldes als Besitzer mit nach Hause.

Bis zu 300 Pferde galoppieren täglich über die Trainingsstrecken auf Middlehams Hochmooren. Pro Pferd werden dafür rund 70 Mark Nutzungsgebür im Monat berechnet. Mit dem Geld unterhält die Gemeinschaft der 14 Trainer (Vorsitzender ist Chris Thornton) die Strecken und macht gemeinsam Werbung. „Wenn eines der Pferde aus Middleham beim Rennen gewinnt, ist es für uns alle gut“, weiß Thornton. Immerhin konnte sein Kollege Mark Johnston, der rund 120 Pferde im Stall hat, im letzten Jahr nicht nur einige der höchstdotierten Rennen der Saison gewinnen, sondern wurde von den britischen Rennsportjournalisten auch zum Trainer des Jahres gewählt.

Kennenlernen kann man die Rennställe in Middleham bei den Tagen der offenen Tür, zum Beispiel am Karfreitag oder beim „Middleham Festival“ im Juli. Oder man kommt nach Feierabend bei einem Glas Yorkshire Bitter mit einem der vielen Stallburschen oder Pferdepflegerinnen ins Gespräch, die im „Weißen Schwan“, im „Schwarzen Schwan“ oder im Pub „Richard III.“ am historischen Marktplatz verkehren. Aber auch ein öffentlicher Wanderweg kann schon mal quer über einen Reiterhof führen.

Wer beim Zusehen Lust zum Ausreiten im Hochmoor bekommt, kann nicht einfach mitreiten. Denn kein Trainer läßt Fremde auf seine hochgezüchteten Rennpferde. Und wer könnte sich wohl ohne Jockeytraining bei 70 Stundenkilometern überhaupt im Sattel halten?

Aber in der weiteren Umgebung von Middleham können Urlauber Pferdetrekking machen. Oder sie gehen einfach mal zum Pferderrennen, auf die schönen alten Rennbahnen von Ripon oder York, um das ganze Drumherum der englischen Pferderennen zu genießen: die Paraden der Pferde mit ihren Jockeys, die feinen Kleider und großen Hüte der Zuschauerinnen, die Anzeigen der Wettschalter, Champagner, Pimm's Cocktail oder die Weinbar und die Buchmacher auf ihren Schemeln in der Menge. Anders als im Moor ist hier der richtige Ort für Anfeuerungsrufe. Und vielleicht gewinnt ja auch ein Pferd, auf das man gesetzt hat, weil es morgens im Moor beim Training so gut ausgesehen hat! Marianne Lange

Literarische Schilderungen über Middleham/Yorkshire: Shakespeare, „Richard III.“; Charlotte Brontä, „Sturmhöhe“; Emily Brontä: „Jane Eyre“.

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