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Für den Fuß eine „kleine Skulptur“

Schenkelhohe Gamaschenstiefel, schrille Pumps in Größe 46 oder folkloristische Latschen mit roten Herzchen: Auch die Turnschuhgeneration wird wählerisch, und das alte Schusterhandwerk macht neue Leisten  ■ Von Inge Braun

„Ein Schuh nach dem ureigensten Maß – für mich und keinen anderen. Damit wird demonstriert: Ich bin jemand und hebe mich ab von der Allgemeinheit.“ Herr Urban von der Arbeitsgemeinschaft Schuhe und Leder trifft den Geist der Zeit.

Mit zunehmender Individualisierung ist auch der Maßschuh wieder gefragt. Zurück geht's zu den Leisten: Junge SchuhmacherInnen lassen das ehrbare Handwerk auferstehen. Nun messen, nähen, steppen und hämmern sie wieder und verbinden altes Handwerk mit klassischem, zuweilen auch extravagentem Design. Schuhe sind für die meisten von ihnen „kleine Skulpturen“, die zur Kreativität anregen. In der Kasse allerdings klingelt es doch noch nicht so doll. Trotzdem wittert die Branche Zuwachs, immerhin hat man ökologisch korrekte Qualitätsware anzubieten. Und die Wehwehchen werden wohl auch künftig nicht ausbleiben. Im Gegenteil: „Die Turnschuhgeneration bekommt Schwierigkeiten, die ausgetretenen Füße machen sich bemerkbar“, weiß der Obermeister der Schuhmacherinnung.

Jährlich werden bundesweit 380 Millionen Paar Schuhe verkauft, 0,3 Prozent davon sind maßgefertigte Schuhe. Die Schuhmacherzunft – 1875 gab es noch 240.000 Schuhmacher in Deutschland – hat ihren Tiefpunkt längst erreicht. Heute fertigen von den 7.000 Schuhmachern in Deutschland gerade mal 200 Betriebe überwiegend Maßschuhe an. Auch in Berlin leben die 170 Schuhmacher hauptsächlich von der Flickschusterei. Damit sieht es inzwischen eher mau aus. Oftmals ist die Reparatur teurer als ein neuer Schuh.

„220 Millionen Paar Schuhe landen jährlich auf dem Müll“, mahnt Alexander Breitenbach und verweist auf die Massen an billigen Wegwerfschuhen, in Billiglohnländern oft unter Einsatz von Kinderarbeit produziert. Unter den Maßschuhmachern ist er der solide Handwerker. In seiner Werkstatt in der Kreuzberger Bergmannstraße werden monatlich im Schnitt zehn Paar Maßschuhe gebaut, meist klassische Modelle mit zeitlosem Design, die keinem Modediktat unterworfen sind. Design ist für den ehemaligen Krankenpfleger bloß Mittel zum Zweck. Er will nicht ausschließlich elitäre Schichten bedienen, sondern – so sein visionärer Ausblick – „Schuhe fürs Volk herstellen“. Doch erst einmal hat er vor, ein Ausbildungszentrum für die momentan 18 Schusterlehrlinge der Stadt aufzubauen und bastelt an Anträgen auf Fördermittel rum. Maßschuhe fürs Volk? Ein Schuh ist ein kompliziertes Gebilde, die Herstellung eine aufwendige Prozedur. Das hat seinen Preis. Der ist so hoch wie bei manchen das monatliche Einkommen, beginnt bei rund 1.000 Mark und stößt nach oben hin auf keine Grenzen. 150 bis 180 Arbeitsgänge sind erforderlich, was bis zu 35 Stunden in Anspruch nehmen kann, während die industrielle Fertigung eines Schuhpaars nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Schuhe und Leder im Schnitt 50 Minuten dauert.

Zuerst wird ein Fußabdruck auf Blaupapier gemacht, die Füße gemessen, nach diesen Maßen eine Fußform aus Buchenholz, der sogenannte Leisten, hergestellt, um den herum dann der Schuh gebaut wird. DIe Tatsache, daß man für jeden Fuß einen gesonderten Schuh anfertigt, ist freilich eine relativ neue Erscheinung. Um Leisten zu sparen, war es bis 1830 üblich, am rechten und linken Fuß den selben Schuh zu tragen.

Weit über 100 Leisten hängen an den Wänden der Frauenschusterei mitten im Kreuzberger Kiez, unten ihnen auch welche aus der Werkstatt des berühmten John Lobbs, der mit seinem eleganten Geschäft in London als der König des Handwerks gilt und schon Alfred Hitchcocks Füße abmessen durfte. Hier in der Manteuffelstraße kommen Schuhfetischisten voll auf ihre Kosten. Auch ganz intime Träume können erfüllt und exzentrische Bedürfnisse befriedigt werden. Zum Beispiel oberschenkellange Gamaschenstiefel, die sich neulich ein Kunde für besondere Spiele mit seinem Freund anfertigen ließ.

In der Vitrine stehen schrille Pumps in Größe 46, mit einer Applikation aus Rindsleder, die einen Penis darstellen soll, neben folkloristischen Latschen mit aufgenähten roten Herzchen. Zu den Exoten gehören hellblaue Babyschuhe in Größe 47 für ganz besondere Stunden. Unübersehbar wütet auch hier die Postmoderne. Die drei Schuhkünstlerinnen Christine Schöpf, Viola Heussen und Marlen Maier zitieren die verschiedensten Stilrichtungen. So vielfältig wie ihre Kreationen ist auch ihr Kundenkreis, darunter auch ältere Damen, die zu eitel sind für orthopädisches Schuhwerk.

Für Michael Oehler sind „Maßschuhkunden 'ne eigene Sorte Mensch. Die müssen Geld haben oder leiden.“ Seiner Meinung nach handelt es sich dabei meist um „psychische Kisten“. Zusammen mit der Industriedesignerin Angela Spieth hat er im Frühjahr den Schuhladen „Trippen“ in den Hackeschen Höfen eröffnet. Mittlerweile gehört das exklusive kleine Refigium schon zur Scheunenviertel-Besichtigungstour für Berlintouristen.

Auf den Reliefs der Terrakottafliesen ist die allererste Kollektion der beiden Schuhdesigner verewigt. „Der Fuß kann gleich Kontakt aufnehmen mit seinem Modell“, erklärt der Maestro. Auch hier wird auf das Außergewöhnliche gesetzt, auf das Besondere eben. Der Rückzug ins Private macht sich auch auf dem Schuhsektor breit. „Die Mode ist zurückgenommener, nicht mehr so provokativ wie vor fünf Jahren“, erklärt Oehler.

Neben der Einzelanfertigung von Maßschuhen hat der Schuhmacher gemeinsam mit Angela Spieth umweltfreundliche Kleinserien, Stichwort: recycelbare Gummisohlen, entworfen, die er, nicht unclever, in einem Familienbetrieb in Italien herstellen läßt. Überhaupt: Limitierte Kleinserien scheinen lukrativ zu sein. Renner der Saisonwaren waren bei Oehler und Spieth die Trippen, eine Serie von Holzschuhen mit ungewöhnlichen Formen, die, so die Erfinder, „bei 70jährigen Omas und 16jährigen Ravermädchen“ gleichermaßen beliebt seien. Die trippeln dann gemeinsam über den Hackeschen Brunnenhof, und ihr Klacken ist bis in die Oranienburger Straße zu hören.

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