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„Herr Honecker, ich bin verzweifelt!“

Ob Schimmelpilze an der Wand oder mangelnde „Brillenversorgung“ – DDR-BürgerInnen zeigten beachtliches Geschick, ihren Staatsrat mit Bitt- und Beschwerdebriefen, den „Eingaben“, zu nerven  ■ Von Steve Körner

15 lange Jahre hatte Siegfried Ebert eine Schafsgeduld. Dann, im Sommer 1986, platzte ihm der Kragen. Ebert war ein ganz normaler DDR-Bürger – wenn man mal davon absieht, daß ihm ein Mehrfamilienhaus in der Halleschen Straße in Merseburg gehörte, durch dessen Dach schon während der 74er Fußball-WM der Regen tropfte. Nach 15 Jahren griff Ebert zum allerletzten Mittel: „Seit zwölf Jahren“, schrieb er an den „Sehr geehrten Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker“, „versuche ich mit den örtlichen Organen, das Dach meines Hauses neu eindecken zu lassen, aber es führt kein Weg dahin.“

Immer wieder werde er vertröstet, immer wieder fehle es an Handwerkern, Material und Fonds. „Das ständige Streichen der Bilanzen“, jammert Ebert, „sorgt für einen fortschreitenden Verfall des Daches.“ Bereits jetzt hätten verschiedene Wände einen „hohen Durchnässungsgrad“, es regne den Mietern teilweise schon in die Wohnung. Was soll denn nun werden? „Herr Honecker“, gestand Ebert dem großen Vorsitzenden im fernen Berlin, „ich weiß nicht mehr weiter. Ich bin verzweifelt.“

Fehlte eine Gehwegplatte, schrieb man eine Eingabe

Erich Honecker selbst, von dem Ebert wohl irgendwie gehofft hatte, er werde es nicht tatenlos hinnehmen, daß einer seiner Bürger „verzweifelt“ bleibt, hat den Brief vermutlich nie gelesen. Wie Tausende und aber Tausende ähnliche Schreiben, landete er in der Abteilung „Eingaben“ des Staatsrates der DDR. Hier wurden Ratlosigkeit und Verzweiflung akribisch verwaltet, wurden Hilferufe analysiert und in Ordnern voller Bürgerjammer sorgfältig archiviert, hier leitete man „Maßnahmen“ ein und Anliegen weiter.

Seit den fünfziger Jahren etablierte sich das Eingabenschreiben nach und nach als ein Stück unverwechselbarer DDR-Kultur. Fehlte vor dem Haus eine Gehwegplatte – schrieb man eine Eingabe. Wurde die Bushaltestelle am Sportplatz gestrichen – schrieb man eine Eingabe. Bekam man keinen Werkstattermin oder keine Ersatzteile oder kein Zeitungsabonnement oder keinen Platz in der Kneipe oder keine Wohnung – man schrieb eine Eingabe. Egal, ob es um Fragen der „Brillenversorgung“ oder um die „Bettensituation“ in den DDR-Krankenhäusern ging, um Wohnungsprobleme, Versorgungsengpässe bei Südfrüchten, Ausreisewünsche oder Verwaltungsfilz.

Jedem Bürger stand es frei, staatliche Organe, Parteisekretäre oder beliebige andere Instanzen per Eingabe damit zu belästigen. Mit dem Absenden des entsprechenden Briefes wurde jedes Anliegen zum verwaltungstechnisch erfaßten Vorgang: Die „zuständigen Organe“ mußten innerhalb einer festgesetzten Frist darauf antworten.

Für Gabriele Schulz begann es mit einem kleinen, handgeschriebenen Brief an den Rat der Stadt Pasewalk. „Seit Jahren“, schrieb Frau Schulz, „wohnen mein Lebensgefährte und ich mit unserer kleinen Tochter nun schon in einem Haus, das baupolizeilich gesperrt ist. Wir holen jeden Tropfen Wasser aus dem Keller, waschen uns in einer Schüssel. An den Wänden blüht der Pilz!“ Die Verwaltung vertröstete. Einmal. Gabi Schulz schrieb an den Rat des Kreises. Zweimal. Gabi Schulz versuchte es mit einem Durchschlag an die SED-Kreisleitung. Dreimal. Das war dann einmal zuviel. Jetzt tat Gabriele Schulz, was nur die Mutigsten wagten: Sie griff zum letzten Mittel und schrieb auf blauliniertem Schulschreibpapier, was im DDR-Volksmund ehrfurchtsvoll flüsternd eine „Staatsratseingabe“ genannt wurde.

Denn wenn gar nichts mehr ging, wenn das zuständige „staatliche Organ“ den lästigen, weil störrisch beschwerdeführenden Bürger aus dem Büro warf, ging im DDR-Zentralismus immer noch etwas. Für jede unlösbare Frage, jedes trotzig von der Bürokratie ausgesessene Problem gab es eine höhere, eine allmächtige Instanz, eine letzte Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erlangen: „Von den territorialen Organen erwarte ich mir keine Hilfe mehr“, schrieb Holger Müller aus Riesa an den „lieben Genossen Honecker“, „aber Sie haben ja die Möglichkeit, sich von oben für die Lösung meines Problems einzusetzen“.

Honecker hatte. Er konnte alles. Und infolgedessen erwartete man alles von ihm. Um die Revidierung von „Gerichtsurteilen in Scheidungssachen“ wurde der Allmächtige mit derselben Selbstverständlichkeit gebeten wie um Besorgung von Pkw-Ersatzteilen Marke Skoda oder „devisenpflichtigen West-Medikamenten“.

Die Eingaben an den Staatsrat der DDR erzählen die Geschichte der DDR als Alltagsgeschichte ihrer Bürger. Dokumente zwischen Aufbegehren und Unterwürfigkeit, die heute zu Zehntausenden ordentlich gebündelt in der Coswiger Außenstelle des Bundesarchivs lagern. Die einen bettelten um „Unterstützung beim Kauf einer Badewanne“, andere hingegen eröffneten dem Staatsratsvorsitzenden freimütig: „Ich bin überhaupt nicht damit zufrieden, daß Sie meine Eingabe ,weitergeleitet‘ haben. Ich darf doch wohl von Ihnen erwarten, daß Sie sich auch persönlich mit den Problemen eines Bürgers ihres Staates befassen.“

DDR-Bürger entwickelten ein beachtliches diplomatisches Geschick und ein gerüttelt Maß an Zynismus im Briefverkehr mit ihrem höchsten Staatsorgan. Wie Mario Freiberg aus Waltershausen, rieb man den Bonzen die eigenen Parolen unter die Nase: Daß Funktionäre bevorzugt Neubauwohnungen bekommen, sei für ihn Ausdruck eines „gestörten Verhältnisses zwischen den Klassen und Schichten“, ließ er den „Genossen Honecker“ wissen. Franz Metzger aus Neubrandenburg hingegen eröffnete provokativ, daß ihm „langsam Zweifel an der Wohnungspolitik der SED“ kämen, um später versöhnlich „Mit sozialistischem Gruß“ zu schließen.

Der langsame Niedergang des ersten Arbeiter- und Bauernstaates hat in den Eingaben unverkennbar Spuren hinterlassen. Was in den Fünfzigern als seltene Einzeltat begann, schwoll später zur wahren Briefflut. Während sich Partei- und Staatsfunktionäre die „ständige Festigung des Sozialismus“ im Land vorheuchelten, konstatierte der „Sektor III“ beim Staatsrat Monat für Monat eine „weiter steigende quantitative Tendenz“. Sektor III war für die Eingabenerfassung und -bearbeitung zuständig. „Bis zu 170 Eingaben täglich“ zählte Sektorenleiter Fritz Glaser im Jahr 1973. Und dabei blieb es nicht. Allein für den Bezirk Halle wurden aus anfangs einigen hundert Eingaben jährlich bis Mitte der Achtziger nahezu 7.000. Auch die Rostocker und die Dresdner, vor allem aber Leipziger und Berliner griffen immer öfter wutentbrannt zur Feder.

„Sektor III“ zeigte sich der Welle gewachsen. Jeder eingehende Brief, mit einer numerierten Karteikarte versehen, löste hinter den Kulissen eine Welle hektischen Aktionismus aus. Der Einsender bekam einen Eingangsbescheid, die kritisierte Behörde hingegen den schriftlichen Auftrag, für Lösungen zu sorgen und anschließend Bericht zu erstatten. Sektor III seinerseits durchleuchtete die eingehenden Briefe im „Infas“-Stil: Arbeiteranteil und Frauenquote, „Vielschreiber“ und „Übersiedlungsantragsteller“, getreulich wurde alles erfaßt und ausgewertet.

Die Lösung der Probleme allerdings beförderte das wenig. Wie auch sollte man zum Beispiel „instabile Versorgungsverhältnisse“, die immer wieder beklagt wurden, ohne zusätzliche Zuteilungen beheben? Wie hundert Dächer mit fünf Dachdeckern und einem Karton Ziegel flicken? Wer repariert 20 Pkw Wartburg mit einem einzigen Zahnkranz? Wie weist man 376 Pflegebedürftige in ein Heim ein, in dem kein einziger Platz mehr frei ist?

Der mit den Jahren zu einem Stück originärer DDR-Kultur gewachsene Moloch „Eingabenwesen“ hatte genaugenommen keinerlei Nutzen. Er verteilte den Mangel einfach nur zu denen um, die keine Eingabe schrieben.

Die Mitarbeiter des Sektor III müssen sich dessen durchaus bewußt gewesen sein. Und sie behielten ihr Wissen nicht etwa für sich. „Die Mehrzahl der Anliegen der Bürger“, schrieb Sektorenleiter Glaser über zwei Jahrzehnte regelmäßig in seine internen Berichte nach oben, „ist berechtigten Ursprungs.“ Viele seien aber dennoch „nicht wie gewünscht zu lösen“.

Detailliert listeten die monatlichen Eingabenanalysen die Schwachpunkte des Systems auf. Fehlerhafte Arbeitsweisen, bürokratisches Verhalten, herzloser Umgang der staatlichen Organe mit Bürgeranliegen seien „unten“ an der Tagesordnung, berichtete Glaser an Staatsratschef Willi Stoph.

Gab es keine Ersatzteile, schrieb man eine Eingabe

Die Unzufriedenheit stieg und damit auch die Zahl derjenigen, die versuchten, „die Lösung ihrer Probleme mit Druck zu erzwingen“. So verlangten immer mehr Bürger aus unterschiedlichen Schichten die sofortige Lösung ihres Wohnungsproblems. „Wenn wir nicht bis zum 15. 8. eine neue Wohnung haben“, wetterte Herbert J. aus Parchim, „könnt ihr uns gleich die Ausreise fertigmachen oder wir schicken Bilder, wie wir als DDR- Bürger leben, in die ganze Welt. Wir leben ja nicht wie Menschen, sondern wie Tiere!“

Solche Briefe wurden natürlich einmal mehr kopiert. „Übersiedlungsersuchen wurde dem MfS zugeleitet“, vermerkt eine Notiz, „Sicherheitsorgane wurden informiert“ eine andere.

Aber sie wurden auch bevorzugt bearbeitet. Augenoptikermeister Ebert aus Merseburg hingegen, der still leidend 18 Jahre lang um die Reparatur seines Daches gekämpft hatte, überlebte das Ende der langersehnten Bauarbeiten nur um wenige Tage. „Im Herbst 1989“, erzählt seine Witwe Ruth, „kamen ja endlich die Handwerker.“ Doch über deren „Pfuscharbeit“ habe sich ihr Mann „so sehr aufgeregt, daß das sein armes Herz nicht mehr mitmachte.“

Spätere Beschwerden seiner Frau über die Pfuscharbeit gingen in den Wende-Wirren unter. Das Dach des Hauses in der Halleschen Straße ist noch immer nicht komplett saniert. Ruth Ebert hat sich irgendwann damit abgefunden. „Heute“, seufzt die Rentnerin, „weiß man ja gar nicht mehr, wo man sich beschweren soll.“

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