: Apokalypse im Namen der Freiheit
■ Zwei Polizisten erschossen die 14 Anhänger des Sonnentemplerordens bei Grenoble und brachten sich anschließend selber um. Schweizer Behörden geraten ins Zwielicht. Hätte der Massentod verhindert werden kön
Apokalypse im Namen der Freiheit
Nach dem gewaltsamen Tod von 16 Anhängern des Sonnentemplerordens wird in der Schweiz um das Leben von mindestens neun weiteren Mitgliedern der geheimen Endzeitsekte gefürchtet. Inzwischen mehren sich die Indizien auf einen Zusammenhang zwischen den 16 Toten, die am Samstag vor Heiligabend halbverkohlt auf einer Waldlichtung in der Nähe der französischen Stadt Grenoble gefunden wurden und den 53 Sonnentemplern, die im Oktober 1994 in der Schweiz und in Kanada den Tod gefunden hatten: Sie alle waren im Mai 1992 Teilnehmer einer Wallfahrt zu den ägyptischen Pharaonentempeln, Grabstätten und Pyramiden, die von der seinerzeit in Genf residierenden Stiftung „Golden Way Foundation“, der Vorgängerorganisation des Sonnentemplerordens, organisiert worden war.
Neun weitere Sektenmitglieder – vornehmlich aus der französischsprachigen Schweiz – die an der Wallfahrt nach Ägypten teilnahmen, leben noch und gelten jetzt als extrem gefährdet. Ihre Namen sind den Schweizer und französischen Behörden bekannt. Darüber hinaus gibt es nach Erkenntnissen der eidgenössischen Justizbehörden mindestens 386 weitere Sektenmitglieder.
Doch immer lauter wird inzwischen nicht nur in Frankreich, sondern auch in der Schweiz der Vorwurf, die Behörden hätten zumindest die jüngsten Massaker verhindern können.
So war bekannt, daß nach dem Ableben der beiden Sektenführer Joseph Di Mambro und Luc Jouret im Oktober 1994 die Genfer Psychotherapeutin Christiane Bonet, deren Leiche in der vergangenen Woche bei Grenoble gefunden wurde, eine Führungsrolle innehatte. Bonet, Mitglied des „Senats“ der Sekte, stand in der neunstufigen Hierarchieleiter des Ordens ganz oben und war eine enge Vertraute von Di Mambro und Jouret.
Mit Wissen der Schweizer Justizbehörden trafen sich seit dem Sektenmassaker 1994 die Opfer des jetzigen Massentods in der Praxis der Therapeutin im Genfer Vorort Carouge. Bei den Justizbehörden heißt es jetzt, die Sektenmitglieder hätten ihre regelmäßigen Treffen bei Bonet damit begründet, daß sie ihren Schock über die Vorgänge vom Oktober 1994 verarbeiten und sich mit Hilfe der Therapeutin einem „Deprogrammierungsprogramm“ unterziehen wollten. Das „tönte plausibel“, erklärt der für die Untersuchung der Massentötungen zuständige Freiburger Richter Andre Piller.
Tatsächlich ist diese Erklärung allerdings wenig glaubwürdig. Denn Bonet wurde nach den Massakern im vergangenen Jahr vom Genfer Untersuchungsrichter Daniel Dumartheray als Zeugin verhört und gab sich dabei als fundamentalistisches Mitglied der Sekte zu erkennen. Offen bedauerte sie in den Verhören, daß sie dem Massentod nicht beiwohnen konnte.
Untersuchungsrichter Piller und Justizminister Arnold Koller weisen die immer lauter werdende Kritik zurück. Man habe zwar seitdem insgesamt 411 Sektenmitglieder identifiziert und verhört – darunter auch alle Erwachsenen, die jetzt in Grenoble tot aufgefunden wurden, – aber keine Handhabe für präventive Maßnahmen gegen die Sekte gehabt.
Im Unterschied zu Frankreich ist der Sonnentemplerorden in der Schweiz bislang nicht zur kriminellen Vereinigung erklärt worden. Das geltende Strafrecht lasse dies nicht zu, ist die überwiegende Meinung von Regierungs- und Justizvertretern. Justizminister Koller erklärte zwar, es sei „besonders beklemmend, daß unter den Opfern auch unschuldige Kinder“ seien. Zugleich betonte der Minister aber das „Grundprinzip der persönlichen Freiheit“. Laut Koller wären „einschneidende Maßnahmen erst dann in Erwägung zu ziehen, wenn die Allgemeinheit ernsthaft gefährdet wird“.
Ins Zwielicht geraten aber inzwischen nicht nur die Behörden, sondern auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – insbesondere der Genfer Stardirigent Michael Tabachnik. Er war ein enger Freund des urprünglichen Sektenführers Di Mambro, Mitbegründer der Vorgängerorganisation Golden Way Foundation und lange Jahre deren Präsident. Den Sonnentemplern gab der Dirigent regelmäßig Esoterikunterricht. Wenige Tage vor dem Massaker 1994, dem auch seine erste Ehefrau zum Opfer fiel, hielt Tabachnik im französischen Avignon vor 100 Sonnentemplern eine Rede zum Thema „Erneuerung“. Das französische Fernsehen bezeichnet den Dirigenten jetzt als letzten Überlebenden der ursprünglichen Führungsriege der Sekte und als möglichen aktuellen Chef des Ordens. Tabachnik weist bislang alle Vorwürfe zurück.
Der Grenobler Staatsanwalt Jean-Francois Lorans hat unterdessen den Verdacht bestätigt, daß 14 der 16 Toten – darunter drei Kinder im Alter von zwei, vier und sechs Jahren – in der Nacht zum 16. Dezember von zwei Polizisten erschossen worden sind. Nach dem Massenmord an den Sektenanhängern brachten der Franzose Jean- Pierre Lardanchet und sein Schweizer Kollege Patrick Vuarnet sich selber um. Weiterhin unklar ist allerdings der Verbleib der Kanister, mit deren brandbeschleunigendem Inhalt die Leichen überschüttet wurden. Auch die Hinweise von Zeugen, nach denen kurz vor dem Tod der 16 Menschen drei Mercedes mit Schweizer Kennzeichen durch das Dorf in Richtung der späteren Fundstelle der Leichen brausten, werden von der französischen Polizei weiter untersucht.
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