: Der Krieg kann lange dauern
Moskau betreibt in Tschetschenien eine „flächendeckende Vernichtung“. Die Rebellen kalkulieren zivile Opfer bewußt ein ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Die Schlacht um Gudermes, Tschetscheniens zweitgrößte Stadt, ist vorbei, doch der Krieg in der Kaukasusrepublik ist nur um eine Episode reicher. Die Rebellen des geflohenen Präsidenten Dschochar Dudajew haben die Stadt verlassen, so, wie sie hineingelangt waren: Unbehelligt von den russischen Truppen, die angeblich einen Ring um die Stadt gelegt hatten. Zurück blieben Hunderte von Toten, vor allem unter der Zivilbevölkerung. Nach Angaben der eigenen Kommandatur verloren die russischen Streitkräfte 78 Wehrdienstleistende, 150 wurden verletzt. Die Verluste des Gegners wurden auf dreihundert beziffert. Die Tschetschenen stellen dagegen eine ganz andere Bilanz auf. 700 getötete Russen und 107 gefallene Rebellen. Das Ausmaß an Opfern unter der Zivilbevölkerung läßt sich noch gar nicht ermessen.
Die Kritik, die der deutsche OSZE-Beobachter Jürgen Heiducoff am Vorgehen der russischen Truppen geübt hatte, wurde in Moskau kaum zur Kenntnis genommen. In den Medien zumindest spielte sie keine Rolle. Dabei hatte Heiducoff einen schweren Vorwurf an die Adresse des russischen Oberkommandos gerichtet. Im Falle Gudermes, so hatte er erklärt, „kann man eindeutig von einem Massaker sprechen“. Es sei eine Terroraktion, die einer „flächendeckenden Vernichtung“ des tschetschenischen Volkes gleichkomme. Das Leben von Tausenden Zivilisten werde aufs Spiel gesetzt, um einige Rebellen zu töten.
Im Vorfeld der Ereignisse von Gudermes hätte es genügend Anlässe gegeben, die gleiche Anklage zu erheben. Dennoch wurde in Gudermes eine neue Etappe des Kaukasusfeldzugs eingeleitet. Die Taktik der Dudajew-Tschetschenen hat sich nämlich verändert. Auch sie sind jetzt bereit, Opfer unter der eigenen Zivilbevölkerung in Kauf zu nehmen. Sie scheinen bewußt damit zu kalkulieren, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen.
Und so ließen sie denn der Ankündigung, die von Moskau angesetzten Scheinwahlen zu sabotieren, umgehend Taten folgen. Das russische Oberkommando konnte dem außer schwerer Artillerie nichts entgegensetzen. Die russischen Truppen reagierten in altbewährter Weise. Kleingeschossen wird, was im Weg steht – ungeachtet selbst der eigenen Verluste. Ungeachtet auch der zaghaften Proteste aus dem Ausland. Nebenbei offenbarte die Aktion, daß die russische Kontrolle über Tschetschenien begrenzt ist. Ungehindert konnten die Rebellen zurück zu ihren Basen in den Bergen ziehen. Der Wirkungskreis der von der Marionettenregierung in Grosny aufgestellten Polizeikräfte beschränkt sich auf wenige Quartiere der Hauptstadt. Demgegenüber konnten die Rebellen sich offenbar frei bewegen und erneut unter Beweis stellen, wie schlagkräftig sie sind. Die Annahme, ihre Kräfte und Ressourcen seien erschöpft, trifft jedenfalls nicht zu. „Man darf sich nichts vormachen“, sagt der Pressechef der inguschetischen Vertretung in Moskau, „das Bild der Tschetschenen in Rußland ist sehr primitiv, als machten sie alles nur für Geld.“ Der Vertreter der Inguschen zweifelt daran, daß das Nachbarvolk jemals kapitulieren könne. Nur habe die russische Seite das bisher nicht begriffen. Auch nach einem einjährigen, zähen Waffengang nicht. Statt dessen laute die russische Devise jetzt: „Flächendeckende Vernichtung“ des tschetschenischen Volkes.
Bestimmte Machtzirkel in Moskau zeigen schon seit Anfang Oktober kein Interesse mehr, mit dem Gegner überhaupt in Verhandlungen zu treten. Nach dem mysteriösen Anschlag auf den russischen Verhandlungsleiter General Romanow wurden die Kontakte abgebrochen. Die Drahtzieher des Terroraktes wurden bis heute nicht ermittelt. Vermutungen wurden laut, das Attentat sei ein russisches Komplott. Moskau wechselte jedenfalls den Kurs. Wahlen wurden kurzfristig anberaumt und ein tschetschenischer Statthalter des Kreml installiert. Der soll sich nun bemühen, dem Lande Frieden zu stiften. Doch der in höchst zweifelhaften Wahlen designierte neue Republikschef Doku Sawgajew kann sich kaum Hoffnungen machen, jemals Herr der Lage zu werden. Nur eine verschwindende Minderheit des Kaukasusvolkes wird ihn jemals anerkennen.
Wie durchsichtig das gesamte Unternehmen ist, bewies auch die Eile, in der mit dem neuen Republikchef ein Vertrag unterzeichnet wurde, der Tschetschenien nochmals zum Bestandteil der russischen Föderation erklärt. Rußland hatte bislang nie Zweifel an der Zugehörigkeit Tschetscheniens zur Föderation aufkommen lassen. Der Kreml war ja überhaupt erst mit dem Argument in Tschetschenien einmarschiert, um eben die „verfassungsmäßige Ordnung“, also die Zugehörigkeit zu Rußland, wiederherzustellen. Der neue Vertrag soll den Tschetschenen angeblich mehr Autonomie einräumen. Bislang hat aber niemand dieses neue Abkommen zu Gesicht bekommen oder gar Einzelheiten erfahren. Nach außen hin wird der Vertrag als die „juristische Lösung“ verkauft, während man im Innern die Gegner aufeinanderhetzt oder mit Brachialgewalt das Volk dezimiert. Die Rebellen mit in die Lösung des Problems einzubeziehen, das kommt dem Kreml indes nicht in den Sinn.
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