: Songbuch aus 1995
■ Brit-Pop oder TripHop? Easy Listening Electronic Listening Music? Bewegung oder doch nur rasender Stillstand? Erinnerungsarbeit muß her, um das musikalische Jahr noch einmal anzugehen. Drei Autoren der taz hamburg versuchen sich in aller Vorläufigkeit an dem Rückblick der anderen Art.
Was gab es nochmal gestern zu Essen ? Und zu Hören? Ein Abtauchen ins Archiv könnte das klären, Gedächtnislücken füllen – Reinventing 95. Doch verändert nicht schon die Textproduktion – im Rauschen der Wörter oder im Tran der Tropfnase – das musikalische Ereignis? Oder ist dies nur wieder die Illusion einer unmittelbaren, sprachlosen Wahrnehmung? Also wird doch nur wieder das haftbar gemacht, was im Gedächtnis haftet – um hier keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen.
Wie jedes Jahr fand der Musickonsum zwischen spezialisiertem Feinschmeckertum, der Ästhetik des Neuen und der Hoffnung auf den korrekten Pop-Moment statt, der ja dann doch immer eintraf. Bisher. Bei den Happy Mondays oder bei Nirvana, bei Public Enemy oder bei Massive Attack. Und wieder ging es dabei darum, eine illegale Kultur in eine legale zu überführen, auch um den Marktwert zu erhöhen – nicht nur für Bands, sondern auch für Clubs, Konzerthallen, DJs, Blattmacher und Journalisten. Alljene erdulden alljährlich die Ignoranz der anderen, in der Hoffnung auf eine spätes Entgelt.
Und, wie gesagt, bisher traf das ja auch mit schöner Regelmäßigkeit ein. Doch dieses Jahr konnte man besonders leicht aufs falsche Pferd setzen – was möglicherweise auch ein Zeichen für eine zunehmende Zersplitterung oder wie Christoph Gurk von der Musikzeitschrift Spex andeutete, der Strategie geschuldet ist, sich ausgerechnet gierigen Grunge als Hauptfeind ausgeguckt zu haben.
Sei es drum. Möglichkeiten gab es auch in diesem Jahr zuhauf, aber auch genug Widerstände. Außen vor war man schnell, wenn man an Brit-Pop allenfalls die zynischen Texte von Blur und die Wiedereinsetzung der schillernden Oberfläche bei Pulp bemerkenswert fand. Außen vor war man, wenn man Easy Listening als ironischen Muzak belächelte. Ebenfalls außen vor geriet man, wenn man beim Wu Tang Clan allein dem Ol' Dirty Bastard, der Hysterie als Überlebensstrategie vorstellt, wirklich nacheiferte.
Zwei Auftritte gab es aber doch, bei welchen man ihn antreffen wollte, den Pop-Moment im Sinne von momenthaftem Zusammentreffen verschiedener Lebensentwürfe beim Hörer und einer kaum zufälligen Bündelung auf einem Act. Doch die Melancholie von Portishead erwies sich schlichtweg nicht als teilbar und mitteilbar. Trotz der Wiedereinführung der Chanteuse im verrauchten Scheinwerferlicht, sah man nur Blau und Blau und wieder Blau. Beim „Electronic Species“-Wochenende inszenierten sich unmögliche Fantasiemusikanten als so etwas ähnliches wie Pop für Erwachsene, wenn das nicht schon ein Widerspruch ist. Sattdessen vereinzelten sich die ohnehin schon wenigen Hörlustigen in solipsistische Kleinstgruppen.
Ähnlich sah es auch anderswo aus. Ob im Pudels, Front oder Marquee – schwer durchlässige Kleinstgruppen, die mit einem Patchwork der Minderheiten nichts zu schaffen haben, errichten sich weiterhin problemlose Binnenräume. So auch in den Tanzhallen. Club-Hopper sind wegen rasender Spezialisierung und einer fragwürdigen Preispolitik zu einer Gästelisten-Community geschrumpft. So haben wir gefroren im Mojo Club, machten Liegestützen in der Markthalle. Wo aber waren nur all die Tanzlustigen? Sie waren beim „Time Tunnel Rave“, wo 5.000 Leute 80 Mark Eintritt löhnten und Marusha mir ihr Käsebrötchen lieh.
Käsebrötchen satt bekam auch Diskurs-Pop, das Markenzeichen der Hamburger Schule, zu futtern. Es wurde dieses Jahr infantilisiert und verniedlicht, bis Ernie der Sesamstraßen-Kammermusik von Ja König Ja entstieg. Überholt wurde das sympathische Duo aber noch von Tocotronic, die den lokalen Wanderpokal 1995 abgreifen, dafür daß sie ihre Unschuld verloren haben. Für ihr zerschlissenes HSV-Trikot auf den Plakaten, für das „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“-T-Shirt und ihren Slogan „Samstag ist Selbstmord,“ den wir auf jede Wand sprühen.
Als ob das noch nicht genug wäre, haben sie unfreiwillig mit „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört“ den Nachruf des Jahres verfaßt. Vor allem aber haben sie den zahllosen Süddeutschen, die hier Arbeitsplätze und Wohnungen besetzen, eine brüchige Stimme gegeben. Jungs, jetzt kommt der Masterplan.
Volker Marquardt
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