Wo der Krawall nicht stattfand: die Sielwallkreuzung

■ Hundertschaften, General Winter und ein vernageltes Viertel zu Silvester / Polizei meldet 40 Verhaftungen

„Was wollt ihr denn? Hört endlich auf?“ Die junge Frau in der schwarzen Lederjacke schrie die versteinerten Gesichter der Polizisten an, derweil hinter der dichten Reihe grüner Uniformen ihr Freund übers Pflaster zu einem Mannschaftswagen geschleift wurde – und für einen Moment war alles wie immer. Wie immer an Silvester auf der Sielwallkreuzung. Wie immer, wenn die Polizei einen Pulk von Jugendlichen angeht, aus dem heraus dies und das geworfen worden war. Und doch war alles anders, trotz der 40 Verhaftungen, die die Polizei gestern stolz vermeldete, trotz der drei Hundertschaften, die rund ums Eck zusammengezogen waren. Der Krawall fand nicht statt. „Der Polizeieinsatz war ein voller Erfolg“, durfte sich Innensenator Ralf Borttscheller freuen.

In der Tat: Im Vergleich zu den letzten Jahren war es ausgesprochen ruhig im Viertel. Die Angriffe auf einzelne Geschäfte, die klirrenden Scheiben, die Verfolgungsjagden der Polizei auf kleine Grüppchen, die Plünderungen, die aufgeregten Vermittlungsversuche wohlmeinender ViertelbewohnerInnen, ein scharf kommentierender Ortsamtsleiter – von all den Zutaten der ostertorschen Silvestersuppe konnten aus dem diesjährigen Gebräu bestenfalls Spuren herausgeschmeckt werden.

Gegen Mitternacht hatten sich zwei- bis dreihundert Leute am Eck versammelt, darunter eine Gruppe von 50 bis 60 Jugendlichen, von denen die Polizei offensichtlich den Zündfunken für das Krawall-Feuerwerk erwartete. Doch es dauerte bis nach ein Uhr, bis „es“ losging. Und „es“ unterschied sich doch ziemlich vom Bekannten.

Ein paar Feuerwerkskörper und Flaschen flogen aus der Gruppe der Jugendlichen in Richtung Polizei, ein Beamter wurde getroffen, und schon rückte der grüne Wall vor, wurden kleine Gruppen eingekesselt, gefilmt, abgegriffen, in Mannschaftswagen gezerrt, weggekarrt. Wütende Gegenangriffe der Jugendlichen? Nein. Die protestierten lautstark, mehr aber auch nicht. Nach einer guten halben Stunde war Ruhe im Karton. Feier beendet.

„General Winter hat gewonnen“, kommentierte gestern Viertelbürgermeister Robert Bücking, der eingekesselt wie die Jugendlichen versucht hatte, die Gemüter auf beiden Seiten wieder zu beruhigen. Aber die bittere Kälte war nur ein Grund für die relative Ruhe der Nacht. Der zweite: General Borttscheller. der Innensenator hatte drei Hundertschaften Polizei und Bundesgrenzschutz zusammenziehen lassen, und vom Sielwall grüßten zwei Wasserwerfer – eine erdrückende und sichtbare Übermacht, das hat der Sielwall an Silvester noch nicht gesehen. Dazu kam, daß sich das Viertel vernagelt und verschanzt hatte. Kaum ein Schaufenster, das nicht mit dicken Holzplatten geschützt worden wäre.

Was aber in der Nacht viel entscheidender war als die Kaufmannsbarrikaden und die bittere Kälte und die viele Polizei, die offensichtlich Order hatte, beim leisesten Anlaß zuzuschlagen: Ganz im Gegensatz zu den letzten Jahren gab es niemanden, der massiv hätte anfangen wollen. Die Polizei hatte zwar am Tag zuvor „drei Kubikmeter Barrikaden-, Wurf- und Brennmatierial“ aus der steintorschen Sophienstraße abgefahren, aber die Hauptpersonen der Silvester-Inszenierung waren nicht gekommen. Es gab keine Gruppen, die mit Rucksäcken voller Pflastersteine durch die Gegend gezogen wären. Es gab keine Versuche, andere zum Angriff zu motivieren. Und es gab keine durchgeknallten Veganer, die ihr tierliebes Mütchen an den Viertel-Schlachterläden hätten kühlen wollen. Ziemlich entspannt saß Öko-Schlachter Matthias Groth mit ein paar Freunden im Hinterzimmer seines verrammelten Ladens. „Hier war nix, gottseidank.“ J.G.