: Friede den Patienten
■ Noch nie war die Grippe so wertvoll wie heute
Öd und leer liegen die Straßen, Behörden und Ämter sind verwaist, ohne Passagiere fährt die U-Bahn, und keiner mehr, der die Verspätungsdurchsagen am Hauptbahnhof hörte. Selbst Ärzte verlassen das Haus bloß mehr, um in der „Tagesschau“ und in den „Tagesthemen“ noch ein bißchen Panik zu verbreiten. Von den Städten ist nur geblieben, der durch sie hindurch ging: der eisige Ostwind. Schöner kann es auch nach dem Einsatz einer Neutronenbombe nicht sein.
Das muß ihr der Neid lassen: Soviel Wahnsinn kann nur die Grippe verbreiten.
Unbarmherzig schwingt der (bitte ankreuzen!) Rote, Gelbe oder Blaue Tod seine Geißel über der norddeutschen Menschheit, und wenn sie nicht schon gestorben ist, malt sie sich den Horror in den finstersten Farben: Plötzlich fassen sich die Menschen an die Kehle, und schon sinken sie, von einem Lungenemphysem oder einem windschlüpfrigen Virus gefällt, zum gefrorenen Boden. Die Totenknechte werden eine weitere Kerbe in den Leichenkarren ritzen und das jüngste Opfer aufladen. Wer jetzt keine Impfung hat, ist so gut wie tot.
Mit der Grippe ist es wie im Film oder während der schlimmsten Nachrüstungszeit. Ein gewaltiges Happening findet statt, ein nur von Werbepausen unterbrochenes, aber immer live übertragenes Die-in, und wer das düsterste Szenario bringt, der ist zumindest Quotenkönig. Noch nie war die Grippe so wertvoll wie heute.
Dabei bleibt das Positive keineswegs auf der Strecke. Endlich ist die Anarchie ausgebrochen. Wenn in den Apotheken der Mundschutz ausgeht und der Impfstoff knapp wird; wenn die Ärzte sich öffentlich darüber streiten, ob man sich mit eiskalten Sitzbädern gegen die Grippe schützt oder sich lieber gleich aufhängt; wenn man schließlich gar keinem mehr glauben und trauen mag: dann, ja dann beginnt eine bessere Welt.
Mit Friede den Patienten zum Beispiel, und Tod den Ärzten und aller Autorität. Die Zeichen dafür mehren sich: Als jüngsten Zugang unterm schwarzen Fähnlein der Anarchie begrüßen wir die Kollegen von der Bild-Zeitung. Der gelben (rünen, roten) Gefahr nicht achtend, haben sie sich dem Vermummungsverbot widersetzt und rufen zu strafbaren Handlungen auf: „Berliner, maskiert euch!“ In der Stunde der Not reichen wir uns die gazebewehrten Hände und singen gemeinsam: Vorwärts und nichts vergessen. Mit der Grippe zieht die neue Zeit. Willi Winkler
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen