: Es ist ein Schweigen und ein Staunen
Ohne Heiner Müllers Renommee und ohne seine Denkspiele – wie geht's weiter am Berliner Ensemble? ■ Von Sabine Seifert
„Die haben nichts zum Tod von Heiner Müller gesagt“, hatte sich ein Freund gewundert, den ich am Silvesterabend auf einem Fest traf. Eine kleine Ansprache hatte er erwartet, Gedenkminute, was auch immer. Mittlerweile ist die vorübergehende Sprachlosigkeit des Ensembles vorbei, und wie so oft nach einer als peinlich empfundenen Schweigeminute reden jetzt alle auf einmal.
Seit gestern lesen Schauspieler und Freunde täglich von 11 bis 19 Uhr im Foyer des Theaters Texte von Heiner Müller, im Anschluß an die Vorstellungen werden über Videomonitore Interviews übertragen, die Alexander Kluge vergangenes Jahr mit dem Autor führte. Schluß- und Höhepunkt des Memorials ist der 9. Januar – an diesem Tag wäre Heiner Müller 67 geworden.
Nach der Vorstellung von „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ sollen dann die ganze Nacht Filme von und über Heiner Müller laufen. „Arturo Ui“ war Müllers letzte Inszenierung am Berliner Ensemble – und die letzte erfolgreiche Inszenierung des Hauses. Die mit Spannung erwartete Premiere von Brechts „Puntila“, die Einar Schleef als Regisseur und Hauptdarsteller verantwortet, mußte wegen diverser Erkrankungen auf unbestimmte Zeit verschoben werden. In einem Interview der Zeit vom 21. 12. geht er im übrigen hart mit dem Schlendrian unter den Mitarbeitern des Hauses zu Gericht und empfiehlt sich en passant als Mitdirektor am BE.
Das Drama spielte sich hinter der Bühne ab: die Premiere mußte verschoben werden, am eigentlich dafür vorgesehenen Tag starb Heiner Müller. Der Direktorenposten ist nun vakant, und Einar Schleef hat sich wohl um seine Chance geredet. In jedem Fall ist an eine „profilierte Künstlerpersönlichkeit“ gedacht, deren Name „die Theaterwelt nach dem Bekanntwerden mindestens zwei Wochen in Erstaunen versetzt“. So wünscht es sich Stephan Suschke, der künstlerische Koordinator des Theaters.
Wie auch immer: Das Berliner Ensemble steht – ohne Müllers Renommee und auch ohne seine Denkspiele – noch schutz- und hilfloser da. Ein traditionsreiches Haus, das durch interne Zwistigkeiten beinahe zum Stillstand gekommen wäre. Berlins Kultursenator Ulrich Roloff-Momin hat öffentlich zwar verkündet, er halte trotz der kritischen Haushaltslage am Berliner Ensemble fest – aber seine Amtstage sind gezählt.
Zunächst empfahl Roloff-Momin die Mitgesellschafter Peter Palitzsch und Fritz Marquardt als zeitweilige Führungsriege. Die beiden Altregisseure hatten sich allerdings eher dankbar aus dem Führungsgremium zurückgezogen, nachdem das Modell einer Mehrpersonenintendanz durch den Weggang Peter Zadeks gescheitert war. Damals wurde Heiner Müller alleiniger künstlerischer Direktor. Seit Frühjahr 95 lautet damit die inhaltliche Linie: Müller – Brecht – Müller – Shakespeare. Neben Einar Schleef werkelt zur Zeit Thomas Heise an Müllers „Bau“, der im Februar Premiere haben soll. Auch Volksbühnen-Chef Frank Castorf und der junge Regisseur Armin Petras waren von Heiner Müller für Inszenierungen am Haus gewonnen worden.
Der Spielplan bis zum Ende der Spielzeit steht. Nur wer die Regie von Müllers jüngstem Stück mit dem Arbeitstitel „Germania 3“ übernehmen soll, das Müller selbst zur Uraufführung bringen wollte, wird noch diskutiert – ohnehin war ein Co-Regisseur geplant, Müllers langjähriger Bühnenbildner Hans- Joachim Schlieker. Eine andere Möglichkeit wäre, die Uraufführung, so wie ursprünglich geplant, Leander Haußmann in Bochum machen zu lassen.
Die Zukunft des BE? „Die steht in den Sternen“, sagt Pressesprecherin Karin Graf. Sie findet es pietätlos, „solange Heiner Müller noch nicht mal unter der Erde liegt“, über seine Nachfolge öffentlich zu spekulieren. Intern laufen die Beratungen mit dem Kultursenator allerdings bereits seit dem Neujahrstag, angeblich soll bis Mitte der Woche bereits über einen neuen Mann an der Spitze des Hauses entschieden sein. Offensichtlich möchte der Kultursenator kurz vor Amtsniederlegung noch Fakten schaffen, damit das Theater nicht in den Untiefen des Berliner Haushaltslochs verschwindet.
Derzeit ist man damit beschäftigt, die Veranstaltungen rund um die Beerdigung von Heiner Müller zu planen. Er hat sich gewünscht, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt zu werden, wo auch Brecht und Helene Weigel liegen. Die Trauerfeier soll am 16. Januar stattfinden. Wetten, daß auch Rolf Hochhuth dabeisein wird, der Müller sogar noch im Münchner Krankenhaus besucht (oder soll man sagen – bedrängt?) hat, um mit ihm – so von Dramatiker zu Dramatiker – über sein jüngstes Monologstück „Effie – die Nacht“ zu plaudern.
Hochhuth wäre gern, was Müller war: Intendant, Hausautor, Regisseur in einem. Darum versucht er seit einiger Zeit mit recht ausgefallenen Mitteln das Haus zu kaufen. Jüngster, noch unbestätigter Coup: die Erben der alten Brechtbühne sollen ihm bzw. der von ihm gegründeten Ilse-Holzapfel-Stiftung ihre Ansprüche auf das Haus unentgeltlich abgetreten haben – und nicht etwa für 4,5 Millionen Mark, wie es bislang geheißen hatte. Das schreibt die Märkische Allgemeine, dem Kultursenat und der für Vermögensfragen zuständigen Finanzbehörde ist eine Schenkungsurkunde bislang nicht vorgelegt worden. In dem Fall hätte die Stadt Berlin kein Vorkaufsrecht auf die Immobilie – nur noch das geringfügige Druckmittel, daß es das denkmalgeschützte Berliner Ensemble bislang mit jährlich 25 Millionen Mark subventioniert.
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