: Aus dem Gefängnis der Wünsche
Der Tod ist ein Steward aus Kanada: Der Schweizer Schriftsteller Christoph Geisers feilt weiter an einer Sprache der schwulen Liebe. Sein neuer Roman „Kahn, Knaben, schnelle Fahrt“ kreist um ein erotisches Initiationserlebnis ■ Von Rolf Spinnler
Das jüngste Buch von Christoph Geiser ist kein Roman, sondern „eine Fantasie“: phantastische Variationen über den Homosexuellen als jungen Mann. Und das kommt so: Ein Schriftsteller, so um die Vierzig, „unterwegs von einer Großstadtexistenz in die nächste“, stößt bei einem Zwischenstopp in der Wohnung seiner Mutter auf ein altes Foto, das ihn als Vierzehnjährigen zeigt. Welches Leben steht diesem schmächtigen, schüchternen Jüngling bevor, der er selbst einmal war? Er könnte jetzt natürlich den klassischen schwulen Bildungsroman erzählen: mit all den Widrigkeiten, Umwegen und schmerzlichen Brüchen, die das Coming out eines jungen Homosexuellen so mit sich bringt. Doch warum dem Knaben nicht einfach eine neue, „phantastische“ Biographie erfinden – vielleicht eine, die sich der Erwachsene im Rückblick selbst gewünscht hätte? Ein mit allen Wassern seiner schwulen Lebenserfahrung gewaschener Schriftsteller, der auf einen unschuldigen vierzehnjährigen Jüngling einredet, ihn verführen und in die Geheimnisse und Lüste der Männerliebe einweihen will – auf diesem rhetorischen Kunstgriff beruht Geisers Buch. Es ist die Geschichte einer Initiation, in der Meister und Schüler ein und dieselbe Person sind; einer Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild, in der Real- und Wunschbiographie aufeinandertreffen.
Christoph Geiser, 1949 in Basel als Sohn eines Kinderarztes geboren, ist Ende der siebziger Jahre durch Romane über seine Kindheit im Schweizer Großbürgertum bekannt geworden („Grünsee“, 1978 und „Brachland“, 1980). Er stammt, nach eigenen Worten, aus „Buddenbrooks-Verhältnissen“. Heute hat er, zwischen Auslandsaufenthalten in Berlin, London, Paris und den USA, seinen Hauptwohnsitz in Bern und wurde inzwischen mit einigen angesehenen Schweizer Literaturpreisen ausgezeichnet. Aber erst mit dem Roman „Wüstenfahrt“ (1984) rückte das Thema ins Zentrum seines Schreibens, das Geiser seither in immer neuen Variationen umkreist: Homosexualität.
Gibt es eine Sprache für die schwulen Leidenschaften und Begierden? Solange die viktorianischen Tabus noch in Kraft waren, hatten die Autoren mit subtilen Andeutungen und Verschlüsselungen arbeiten müssen – nicht unbedingt zum Schaden der Literatur, denn das Verbot machte erfinderisch, erzeugte jenes zweideutige Drumherumreden, dem etwa die Werke von Proust oder Thomas Mann ihren Reiz verdanken. Heute kann man scheinbar „alles sagen“. Das leistet freilich einer naiven Identifikation von Literatur und Leben Vorschub: jenem Pseudorealismus, dem die ARD-Vorabendserien mit den netten schwulen Jungs von nebenan ebenso huldigen wie die handfesten Gebrauchsanweisungen der Pornographie. Die Viktorianer dagegen verdankten dem Sprachverbot – lange vor Lacan und Foucault – die Entdeckung, daß es keine Lust der Körper gäbe ohne erotische Phantasien, ohne den Film im Kopf. Weil schwuler Sex ohnehin aus der „natürlichen Ordnung“ herausfällt, verfügen gerade die Homosexuellen über ein geschärftes Sensorium für dieses „phantastische“ Element in allem Begehren. Die Bilder, die Sprache, die Literatur als Gefängnis wie als Schatzkammer unserer Wünsche – das ist das Thema von Christoph Geisers Büchern. In „Wüstenfahrt“ beispielsweise sind es Rilkes „Duineser Elegien“, die den Ich-Erzähler – als writer in residence zu Gast an einer amerikanischen Universität – aus der Fassung bringen. Er muß nur dem Jack Daniels etwas stärker zusprechen – und schon verwandeln sich Rilkes schöne Engel, die nichts als des Schrecklichen Anfang sind, in muskulöse italo- amerikanische Collegeboys: Engel mit Dreitagebärten und verwaschenen Jeans, die auf Skateboards den Campus unsicher machen. Oder es ist – in „Das geheime Fieber“ (1987) – ein Amor oder Bacchus auf einem Gemälde von Caravaggio, an dem sich die erotische Phantasie entzündet. Oder – in „Das Gefängnis der Wünsche“ (1992) – der elaborierte und monströse sexuelle Diskurs des Marquis de Sade. In seinen frühen Büchern, sagt Geiser, sei er noch weitgehend dem Stilprinzip des Aussparens und Andeutens gefolgt, wie es die Schweizer Literaturtradition seit Gottfried Keller ausgebildet hat. Gewisse Dinge – so die Maxime des calvinistischen Bürgertums – tut man zwar, aber man redet nicht darüber.
Erst die Beschäftigung mit Caravaggio oder de Sade habe ihm eine Bilderwelt und eine Rhetorik des Pathetischen und des Obszönen erschlossen, die in einer protestantischen Kultur nicht möglich sind. In „Kahn, Knaben, schnelle Fahrt“ hat diese Entwicklung Geisers ihren bisherigen Höhepunkt erreicht.
Also kein Bildungsroman, keine Geschichte der Innerlichkeit, keine éducation sentimentale, sondern – in einer Engführung des Religiösen und des Sexuellen – eine Initiation des Körpers in die Lust und den Tod. Und die findet ihren Höhepunkt folgerichtig im Kloster. Dort – so hat es der Erzähler für den Jüngling, der er selbst einmal war, beschlossen – dort, am heiligen Ort, soll sich seine „Transsubstantiation“, seine „Erstkommunion“ vollziehen. Sommerferien in einem bayerischen Kloster, Exerzitien für junge Leute – so nennt sich das Ganze. Und warum sollte unser Jüngling da nicht auf einen schon etwas erfahreneren jungen Mann (blond, blauäugig, Theologiestudent) stoßen, der gemeinsam mit ihm „übt“, „ein Fleisch zu werden, wie es geschrieben steht“ – nachmittags, in der Stunde der geistlichen Einkehr, in der Zelle, im Bett unter dem Kreuz? Das wäre doch der richtige Anfang für ein Studium der Engelskunde, der Angelologie. So begatten sich in der Phantasie des Erzählers das Heilige und das Obszöne als die denkbar größten Gegensätze – und wissen sich doch eins in ihrer gemeinsamen Opposition gegen das juste milieu einer gepflegten Bürgerlichkeit.
Es ist ein erotischer Rausch, in den sich unser Schriftsteller da hineinsteigert – ein Orgasmus auf dem Papier. Denn – vergessen wir das nicht – vor ihm liegt nichts als eine armselige Fotografie. Kein fremder Knabe im Bett – nur die Litanei der Erregungsformeln, die aus der eigenen Feder fließen. All diese Abenteuer des Fleisches – nur ein Film im Kopf: „Phantom-Lust“. Die Mönchszelle mit ihren Heiligenbildern – nur ein Schreibzimmer, mit ein paar Pin-up-boys an der Wand. „Ich treib' es! wenn sich nur Gelegenheit bietet – selten genug, leider – [...] meist nur im Kopf. In der Erinnerung, aus der Erinnerung. Beim Zuschauen, Zuhören, das Ohr an der Wand. Da bin ich mitten unter euch! Über euch. Zwischen euch. Oder einfach am Schreibtisch. Ich kompiliere, mußt du wissen, als Wortgeistlicher, mäßig säkularisiert, die Fragmente der Unzucht in meinem Kopf, und aus verschiedensten Quellen.“
Das sollte man sich nicht zweimal sagen lassen: Hier formuliert der Autor seine eigene Poetik. Und was wird da nicht alles kompiliert! Der Text ist eine einzige Collage, die sich einverleibt, was immer als Stoff zum Aufgeilen für tauglich befunden wird: Zitate aus der „hohen“ Literatur, die Klischees der Soft-Pornos, das ganze Museum der schwulen Ikonen. Die literarischen Anspielungen reichen von Goethe (seinen Tagebüchern ist der Buchtitel entnommen) über Georges-Arthur Goldschmidts Internatsgeschichten und Kafkas „Landarzt“ bis zum blasphemischen gay reading von Paul Celans „Todesfuge“: Der Tod ist ein Steward aus Kanada, er nimmt dich von hinten ... Und all die Pfadfinderhäuptlinge, Bademeister, Matrosen, Frühstückskellner, Bodybuilder oder marokkanischen Stricher könnten den gewissen Hochglanzmagazinen entlaufen sein: ein Pandämonium schwuler Obsessionen.
„Kahn, Knaben, schnelle Fahrt“ demonstriert die Macht wie die Vergeblichkeit aller sexuellen Rhetorik. Indem er in barocker Manier Klischee auf Klischee häuft, betreibt Christoph Geiser eine Selbstreflexion der Sprache des Begehrens. Damit steht er in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (nicht nur der schwulen) ziemlich einzigartig da; allenfalls Elfriede Jelinek, deren „Klavierspielerin“ er denn auch sehr bewundert, verfolgt ein ähnliches Ziel. Anders als seine österreichische Kollegin will Geiser aber nicht denunzieren: Er ist kein Satiriker, sondern Ironiker. Wo Jelinek immer noch suggeriert, es gebe jenseits des attackierten patriarchalisch-kapitalistischen Sexualdiskurses so etwas wie eine authentische, nicht-entfremdete, „natürliche“ Sprache der Liebe, weiß Geiser, daß es aus dem Gefängnis der Wünsche kein Entrinnen gibt. Sein ironisches Kontrastprogramm zur Jelinekschen Wut könnte von Nietzsche entlehnt sein: in Ketten tanzen, die Künstlichkeit auf die Spitze treiben. Vielleicht ist er gerade als Schweizer Autor dafür besonders prädestiniert, weil für ihn das Hochdeutsch, das er schreibt, selbst schon eine Kunstsprache ist, die im eigenen Land im Alltag von niemandem gesprochen wird.
Aber wäre nicht gerade diese Ironie wieder „protestantisch“: ein schützender Vorbehalt, mit dem man sich alle großen Gefühle, alles Pathos vom Leibe hält? De Sade war kein Ironiker, Sokrates (und Thomas Mann) sehr wohl: nein, lieber Alkibiades (lieber Franzl Westermeier), ich will ja gar nicht mit dir schlafen – nur dein hübsches Gesicht anschauen. Ist Geiser nicht wieder dorthin zurückgekehrt, von wo er ausbrechen wollte: in die protestantische Bürgerlichkeit? Alles umsonst? Nicht ganz. Die erotische Ironie verficht kein asketisches Bilderverbot. Sie entzündet sich vielmehr am barocken Rausch der Bilder, die wie ein Feuerwerk am Himmel aufsteigen und verglühen, weil keines an den leibhaftigen Engel, den Traumboy, heranreicht.
Christoph Geiser: „Kahn, Knaben, schnelle Fahrt. Eine Fantasie“, Verlag Nagel & Kimche, Zürich 1995. 240 Seiten, geb., 39,80 DM
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