Kriminelle Grauzone für Menschenhändler

Verbotene Pornographie hat die Datennetze ins Gerede gebracht. In Bayern ermittelt die Polizei auf unklarer Rechtsgrundlage gegen große Onlinedienste und kleine Betreiber von Mailboxen  ■ Von Andrea Siebert-Wellnhofer

Bis letzten Juli war die Welt für ihn in Ordnung gewesen. Auch noch morgens um sieben. „Um die Zeit liege ich noch im Bett“, sagt Werner Niedermeier. Ebendort befindet er sich auch an jenem Tag zu Beginn der Sommerferien, als es gegen sieben Uhr an seiner Tür klingelt. Frau und Kinder in Urlaub, endlich in Ruhe ausschlafen – geht nicht, es läutet Sturm. „Des kann nix G'scheits sein“, vermutet Niedermeier und zieht die Decke über den Kopf, um weiterzuschlafen. Doch daraus wird nichts. Holz splittert, die Tür ist aufgebrochen. Im Wohnzimmer stehen vier Polizeibeamte und halten dem 37jährigen Familienvater einen Hausdurchsuchungsbefehl unter die Nase. Niedermeier – im Hauptberuf Produktmanager eines Multimedia-Verlages – steht unter dem dringenden Verdacht, über seine Mailbox pornographische, Schriften verbreitet zu haben.

So steht es im richterlichen Durchsuchungsbefehl, den die Beamten pflichtbewußt befolgen. Als sie wieder gehen, nehmen sie die gesamte Computeranlage mit. Rechner, Modems und Datenträger, alles säuberlich in Kartons verpackt, konfisziert.

Im November hat Niedermeier seine Rechner zurückerhalten, doch ermittelt nun die Staatsanwaltschaft gegen ihn und 50 andere Anbieter aus Mailboxen und Onlinediensten. Rund 250 Anbieter hat die Arbeitsgemeinschaft EDV (AG EDV) der Kriminalpolizei seit ihrer Gründung zu Jahresbeginn überprüft. Neben Wirtschaftskriminalität, indizierten Computerspielen und Nazi-Propaganda sind Verstöße gegen den Paragraphen 184 des Strafgesetzbuches am häufigsten: Gewalt-Pornographie wird ebenso in Mailboxen und Online-Foren gehandelt wie Bilder und Texte, die sexuellen Mißbrauch von Kindern zum Inhalt haben.

Angebot zum Sexualmord in der Telekomleitung

„Magst Du was Junges?“ Das war noch die harmloseste Frage, die sich der Augsburger Journalist Detlef Drewes bei seinen Recherchen im Bildschirmtext der Telekom (jetzt: „T-Online“) anhören durfte. Nach dem Vorgeplänkel ging's zur Sache: Drewes, der zum Schein auf die Angebote einging, erhielt Offerten „wie in Flachslanden“. „Maria, 32“ bot sich und die 12jährige Tochter im Doppelpack „zur freien Verfügung“ an. Einer fragte gar, wohin er denn die Lieferung – „zwei Aussiedlerkinder, neun und elf Jahre“ – zustellen solle. Darüber hat Drewes ein Buch geschrieben („Kinder im Datennetz: Pornographie und Prostitution in den Neuen Medien“, Eichborn Verlag Frankfurt, 160 Seiten, 29,80 DM). Die „Ware Kind“ wird in Mailboxen und Onlinediensten wie CompuServe oder Telekom- Online feilgeboten. Geschätzter Umsatz der Branche: 400 Millionen Mark im Jahr. Die Polizei geht von 40.000 bis 50.000 Pädophilen aus, die es regelmäßig nach harten Kinderpornos und minderjährigen Prostituierten gelüstet. Dazu kommen noch etwa eine Million „Gelegenheitskonsumenten“.

Bedient wird der Kindersex- Markt zunehmend von Banden, die die Kripo am liebsten dem organisierten Verbrechen zuordnen möchte. Die Menschenhändler greifen dort zu, wo die wirtschaftliche Not am größten ist: in Aussiedler- und Flüchtlingsheimen, in der Dritten Welt und in Osteuropa. Bei seinen Recherchen wurde Drewes ein zehnjähriger polnischer Junge angeboten, mit dem er für 5.000 Mark „alles machen“ dürfe. Auch der Tod des Kindes sei kein Problem, versicherte der Verkäufer. „Wir sind bei der Entsorgung gerne behilflich.“

Kinderhändler und ihre Kunden wickeln solche Geschäfte gerne über die anonymen Sextreffs auf T-Online oder CompuServe ab. Droht Gefahr, wird die Verbindung abgebrochen. Weil weder Namen noch feste Pseudonyme registriert werden, sind die Spuren kaum zu verfolgen. Dialogdienste wie der des Marktführers „Atlantis“ mit über 20 Millionen Mark Umsatz im vergangenen Jahr haben sich so zu einem Paradies für Pädophile jeglicher Couleur entwickelt.

Die Polizei kommt mit der Technik nicht mehr mit

Wer ist nun schuld? fragt sich Drewes. Die Telekom fühlt sich nicht verantwortlich, die Betreiber der Sextreffs fühlen sich unschuldig, weil sie mit ihren „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ die rechtliche Verantwortung für den Inhalt der Gespräche auf die Teilnehmer abwälzen. Und die Polizei fühlt sich hilflos, weil sie weder Personal noch Know-how hat, um mit dem technologischen Stand fertig zu werden. Zwei Monate lang bot Drewes T-Online-Mitschnitte an wie sauer Bier, doch weder die Kriminalpolizei in Augsburg noch das bayerische Landeskriminalamt wurden aktiv. „Wir kommen bei Gelegenheit zurück“, hieß es im Januar.

Im Februar wurde nach dem Vorbild der bundesweit operierenden „Zentralen Auswertungsstelle Kinderpornographie“ in Stuttgart in Bayern die „Arbeitsgemeinschaft EDV“ eingerichtet, die sich mit Computerkriminalität befaßt. Acht weitere Bundesländer wollen nachziehen.

Besitz, Handel und Verbreitung von Kinderpornographie ist generell verboten, andere Pornographie darf zum Schutz Minderjähriger lediglich nichtöffentlich angeboten werden. Das wußte auch Mailbox-Betreiber Niedermeier und zog von sich aus die Konsequenzen – wie er glaubte: „Ich habe keine pornographischen Bilder angeboten“, sagt er. An die Stories in seinem Erotik-Forum durften „nur Leute über 18“. Und schon im letzten Mai – „als das mit den Razzien losging“ – habe er die entsprechenden Texte ganz entfernt.

Nicht einmal verdient hat er an seinem Hobby, sondern, im Gegenteil, viel Geld investiert, um den „Usern“ Sextexte aus den einschlägigen Internet-Newsgruppen und CompuServe-Foren zu bieten. Und fast schon trotzig behauptet auch er: „Ich fühle mich unschuldig.“

Selbstkontrolle fällt den Netzanbietern schwer

Wie ein Porno-Händler sieht Werner Niedermeier nun wirklich nicht aus. In Jeans und T-Shirt, den Yin-Yang-Anhänger um den Hals, sitzt er hinter seinem mit Papierstapeln und CDs beladenen Schreibtisch. Die dunkelblonden, schulterlangen Haarsträhnen könnten etwas Shampoo vertragen, aber Niedermeier ist ein vielbeschäftigter Mann, der für solche Dinge keine Zeit hat. Seit er mit einigen Mitstreitern aus der Münchener Szene die „Interessengemeinschaft Datenkommunikation“ (IDK) gegründet hat, rufen ihn ständig verunsicherte Mailbox- Betreiber an und bitten um juristischen Rat. Die monatlichen IDK- Treffen im „Sofia-Grill“ in der Lindwurmstraße sind gut besucht, und Gesprächstermine mit Polizei und Presse muß er auch noch absolvieren.

Inzwischen zweifeln Juristen, ob es überhaupt zu Anklagen gegen ihn oder gar die großen Dienste wie T-Online und CompuServe kommt. Beide, Polizei wie Mailbox-Betreiber, bewegen sich juristisch auf schwankendem Boden. Die Strafverfolgungsbehörden lavieren zwischen Fernmeldeanlagen-Gesetz, Presse- und Strafrecht herum. Mailbox-Betreiber klagen über Willkür, sehen ihre Existenz bedroht und versuchen, sich selbst rechtlich abzusichern. Die IDK will gegen schwarze Schafe in den eigenen Reihen vorgehen (Adresse: IDK, Hofangerstraße 45, 81735 München, E-Mail: IDK(at)whocares.cube.net).

„Die Rechtslage ist nicht so klar, wie die Polizei immer tut“, moniert der Münchener Rechtsanwalt Christian Czirnich. Außerbayerische Gerichtsurteile geben ihm recht: Danach sind Mailbox- Moderatoren („Sysops“) für den Inhalt ihrer Systeme nur so weit verantwortlich wie ein Verleger für den Anzeigenteil seiner Zeitung. Anwalt Czirnich favorisiert einen „Carrier-Status“ für Mailboxen. Nach diesem Modell haftet der Anbieter erst dann, wenn ihm rechtswidrige Umtriebe bekannt werden. So regelt es der Staatsvertrag mit der Telekom, die die Leitungen für „T-Online“ bereitstellt.

Auch dort gelobt man Besserung: Anfang Juli wurde das Btx- Selbstkontrollgremium (BSK) aus der Taufe gehoben, in dem Vertreter der Anbietervereinigung, der Telekom und Andreas Calov vom Btx-Teilnehmerschutzverein sitzen. Auf diesem ersten Treffen einigte man sich auf einen Verhaltenskodex, wonach sich die Anbieter verpflichten, keine Programme mit „rechts- oder sittenwidrigen“ Inhalten zu bringen. Dialogdienste sollen die eingesetzten Sex-Animateure kennzeichnen und für „lückenlose Kontrolle“ der Gesprächsbeiträge sorgen.

Bislang stoßen diese Richtlinien bei den einschlägigen Anbietern jedoch auf taube Ohren: „Nach ein paar Monaten Zurückhaltung geht das Treiben munter weiter“, hat T-Online-Rechercheur Drewes festgestellt. Der Münchener Anwalt Volker Thieler hat deshalb die Telekom wegen „Verwaltung pornographischer Schriften und Beihilfe zur Prostitution“ angeklagt. Die Klage liegt seit dem vergangenen Sommer beim Amtsgericht München.

Angesichts der Datenmenge, die durch die Leitung rauscht, kapituliert aber auch so mancher gutwillige Mailbox-Betreiber und beschränkt sich auf Stichproben. Mit dem Filter-Befehl „Sex“ hat Niedermeier kilobyteweise Texte aus dem Internet erhalten und in die Mailbox geladen – „das konnte ich schon aus Zeitmangel nicht alles überprüfen“, verteidigt er sich und zündet die nächste Zigarette an. Was ihn selbst interessiert hat, hat er wohl „ganz gerne mal angelesen“, sagt er zögernd. Er steht „auf lange Haare“, und dann waren da auch ein paar „S/M-Geschichten“.

Im wirklichen Leben würde er „so etwas“ niemals machen, den Unterschied zwischen Fiktion und Realität sollten „die Leute mal begreifen“. Daß es der Polizei um den Schutz der Kinder geht, will auch der zweifache Vater nicht bestreiten und versichert: „Wenn sexueller Mißbrauch bestraft wird, habe ich kein Problem damit.“