piwik no script img

Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Francois Mitterranddie Geschicke Frankreichs mitbestimmt. Für die Linke war seine Wahl zum Staatspräsidenten im Jahre 1981 nicht mehr und nicht weniger als der Beginn einer neuen Ära. Doch der "aufgeklärt

Mehr als ein halbes Jahrhundert hat François Mitterranddie Geschicke Frankreichs mitbestimmt. Für die Linke war seine Wahl zum Staatspräsidenten im Jahre 1981 nicht mehr und nicht weniger als der Beginn einer neuen Ära. Doch der „aufgeklärte Monarch“ führte sein Land nicht in den Sozialismus. Vielmehr präsidierte er über das Begräbnis linker Ideologien

Die Hoffnung blieb nur eine Hoffnung

An seinem letzten vollen Amtstag umgaben François Mitterrand lauter Rosen. Sechzig alte Freunde überreichten dem überraschten, scheidenden Präsidenten am Abend des 16. Mai 1995 im Flur des Elysee-Palastes Blumen. Dann schrieb Mitterrand seine Abschiedsbotschaft an das Volk. Anders als üblich, ließ er wissen, werde er sein Adieu nicht im Fernsehen verlesen. „Theatralisches Abschiednehmen“, behauptete er, sei „nicht nach meinem Geschmack“.

Das war natürlich gespielte Bescheidenheit, denn nichts lag François Mitterrand mehr als der Sinn für erstklassige Inszenierung. Mit vielen Rosen beendete er seine 14jährige Zeit als Präsident Frankreichs; mit einer Rose hatte er sie begonnen, als er im Mai 1981 majestätisch den Weg zum Pantheon in Paris beschritt. Damals schwebte die französische Hauptstadt wie auf Wolken und feierte den Beginn einer neuen Ära. „Schau, etwas hat sich verändert“, ertönte ein vielzitierter Chanson von 1981. „Die Luft scheint leichter, es läßt sich nicht beschreiben/ Schau, der Himmel reißt auf und alles ist Sonnenschein“.

Der „Glaubensakt“, wie die Zeitungskolumnistin Claude Sarraute Mitterrands solitäre Pantheon-Prozession nannte, war die Krönung einer widerspruchsvollen Karriere. 1981 wählte Frankreich mit Mitterrand einen Sozialisten zum Präsidenten, der versprach, die Gesellschaft zu verändern. „Es gibt nur einen Sieger“, rief er nach seinem Wahlsieg 1981, „und das ist die Hoffnung.“

Es hatte lange gedauert. Erst beim dritten Anlauf wurde Mitterrand Präsident: 1965 hatte er mit immerhin stolzen 45 Prozent gegen General de Gaulle verloren, 1974 als Führer der sozialistisch-kommunistischen „Union der Linken“ hauchdünn gegen Valéry Giscard d' Estaing. Zwischendrin war er zuweilen tief gefallen. 1969 erzielte der von ihm gestützte Präsidentschaftskandidat Gaston Deferre gerade mal fünf Prozent der Stimmen; Mitterrand nannte sich daraufhin den „meistgehaßten Mann Frankreichs“. Aber schon zwei Jahre später setzte er die Vereinigung der zersplittertern nichtkommunistischen Linken zur Sozialistischen Partei durch: die Wahlmaschine, die ihn 1981 an die Macht bringen sollte.

Dieser Weg nach oben war Mitterrands Glanzleistung. Er diente nicht nur dem politischen Erfolg, sondern auch der Legende, hier sei ein unermüdlicher Held der Linken am Werk. Ohne das wäre er nie Präsident geworden. Mitterrands Triumph von 1981 war nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die Wähler ein Glaubensakt.

Er selbst wußte das. „Ich wurde nicht als Linker geboren, noch weniger als Sozialist“, schrieb Mitterrand 1969 während seines politischen Tiefs. Auch andere wußten es: „Derjenige von uns beiden, der aus der Rechten kommt, bin nicht ich“, erklärte ein zorniger Jacques Chirac 1976 – Mitterrand hatte den Neogaullisten, der ihm später als Präsident nachfolgen sollte, gerade als Reaktionär beschimpft. Die mehr oder weniger offene Kollaboration, die Mitterrand zeitweise während des Zweiten Weltkrieges mit dem französischen Vichy-Regime trieb und die der Journalist Pierre Péan 1994 in seinem Bestseller „Une jeunesse française“ unter die Lupe nahm, war für Insider kein Geheimnis. Auch nicht, daß der 1916 geborene Mitterrand in den 30er Jahren der katholischen nationalistischen Rechten zuneigte.

Nichtsdestotrotz erfuhr mit Péans Darstellung dieser Tatsachen erstmals ein breiteres Publikum davon. Das trug erheblich zur bereits fortgeschrittenen Demystifizierung der mitterrandschen Hoffnung bei. Mitterrands ungerührte Antwort darauf war die Feststellung, es sei doch wohl besser, politisch von rechts nach links zu wandern als umgekehrt. Aber dennoch erschien diese Biographie, die bisher für viele Hoffende so makellos anmutete, jetzt plötzlich als vielschichtiges Labyrinth von Überzeugungen und Sackgassen.

Dabei war das eine so falsch wie das andere. Mitterrand arbeitete zwar nach seiner Flucht aus deutscher Kriegsgefangenschaft im Dezember 1941 im Vichy-Kommissariat zur Wiedereingliederung der Gefangenen, aber nach der deutschen Besetzung des Vichy-Gebiets 1942 stieg er schnell zu einem der Führer der Résistance auf. In seiner Funktion als Leiter der Nationalen Gefangenenbewegung war er der innerfranzösische Widersacher des im Exil arbeitenden General de Gaulle. Aus dieser Zeit stammt auch die tiefe Feindschaft zwischen den beiden: Im Dezember 1943 lehnte Mitterrand bei einem Geheimtreffen in Algier de Gaulles Bitte ab, seine Bewegung einem Neffen des Generals zu unterstellen.

Nach dem Krieg setzte Mitterrand seine Arbeit für die Reintegration von Kriegsgefangenen fort, ohne einem klaren politischen Lager anzugehören. Die Feindschaft zu de Gaulle blieb. 1944 habe sich de Gaulle von „Ehre und Vaterland“ leiten lassen, schrieb Mitterrand später – 1958 bei der Gründung der Fünften Republik aber von „Umsturz und Untergrabung“.

In dem langen Weg Nachkriegsfrankreichs zu politischer Stabilität, abgeschlossen mit der Bildung eines starken Präsidialsystems in der Fünften Republik, wird erstmals Mitterrands Strategie deutlich: sich eine politische Arena – sei es eine Ideologie oder eine Institution – anzueignen, um sie später zu kontrollieren. Er war erbitterter Gegner der Fünften Republik, verschrieb sich aber nach ihrer Gründung dem Ziel, ihr Präsident zu werden und damit de Gaulle zu stürzen. Er war nie ein Wortführer der Linken gewesen, wählte aber das linke Lager als Sprungbrett. Denn er sah das Bestehen einer starken und unbeweglichen Kommunistischen Partei als Garant der Macht de Gaulles – von Stalinisten dominiert, bliebe die Linke ewig in der Opposition. So mußte die Linke zerschlagen und zugleich neugegründet werden. Das war das Motiv der Gründung der Sozialistischen Partei 1971, die die KP schließlich marginalisierte. „Der Sozialismus“, enthüllte Mitterrand 1981, „ist weder ein Dogma noch eine Philosophie, noch weniger eine Religion. Er ist eine Methode.“

Kern dieser Methode war ein außerordentliches Beharrungsvermögen. „Überdauern“ war Mitterrands Motto in jenen frühen Kriegstagen, als er vergebens auf eine Versöhnung zwischen Vichy- Chef Pétain und Résistance-Führer General de Gaulle hoffte. „Halte durch, Onkelchen!“ riefen ihm seine Unterstützer 1986 zu, als er seine präsidiale Macht erstmals mit einem von der Opposition gestellten Premierminister namens Jacques Chirac teilen mußte. Er selbst sagte von sich 1969: „Man beschreibt mich oft als sehr wendig, als boshaft und berechnend. Aber wenn ich total schwerfällig wäre – das wäre nicht die beste Art, die Ereignisse meiner Zeit zu beeinflussen.“

Mitterrand war Frankreichs erster linker Präsident nach dem Weltkrieg, aber er führte sein Land nicht in den Sozialismus. Vielmehr präsidierte er über das Begräbnis linker Ideologien. Das geschah nicht erst mit den Maastrichter Verträgen von 1992, deren Stabilitätskriterien jetzt Nachfolger Chirac in ein Korsett zwängen. Auch nicht nur mit dem Bruch der Koalition mit den Kommunisten 1984 oder mit der Wende zur Sparpolitik 1982, die linke Experimente in der Wirtschaft beendete. Schon 1981 war Mitterrand der „Mann des Jahres“ der Financial Times. Das „gemeinsame Programm“ der Linken hatte er schon Jahre vor der Wahl aufgegeben. Sein Diktum, die „Hoffnung“ habe 1981 gesiegt, war vielleicht nur eine Art, die Wirklichkeit vor den Ansprüchen der Utopie zu schützen.

Mitterrand sei „ein Mann, der verschiedene Gestalten annehmen kann“, schrieb 1941 ein anonymer Freund in einer Kriegsgefangenenzeitung. „Er besitzt die Gabe der Allgegenwart, und ich habe ihn stark im Verdacht, im Besitz des gefürchteten Geheimnisses der Persönlichkeitsspaltung zu sein.“ Den einen war Mitterrand eine „Sphinx“, den anderen „Onkelchen“ („tonton“). Den einen war er der linke Held, den anderen ein rechter Verräter. „Der Verräter“, schreibt Jean-Paul Sartre in seinem Essay „Von Ratten und Menschen“, „gehört natürlich einer ganz besonderen Spezies an: Er hat seine eigene Art, ein x-beliebiger Mensch zu sein ... Ich reihe ihn unter die Indifferenten ein, die keinerlei Neigung kennen.“

Nach seinem Erfolgsgeheimnis befragt, nannte Mitterrand kürzlich eben jene Qualität der Indifferenz – also der Gleichgültigkeit –, die bereit ist, jeden Weg einzuschlagen, solange er denn zum Ziel führt. Dennoch ist „Treue“ die Eigenschaft, die alten Freunden Mitterrands am ehesten einfällt. Sein Einstieg in die Politik mitten im Krieg war dem Drang geschuldet, seinen Kameraden aus den Gefangenenlagern zu helfen – aus seiner Gefangenschaft stammten seine engsten Freunde. Er war ein tiefer Verachter des großen Geldes und träumte davon, durch ein Überwinden der Spaltung Europas die Bedingungen für die Versöhnung der französischen Gesellschaft zu legen – wenn auch die Früchte vielleicht erst in ferner Zukunft reifen könnten. Seine früheste Kindheit beschreibt Mitterrand als Zeit, in der er glaubte, daß sich die Menschen lieben. „Damals dachte ich“, sagte er 1986, „daß die Welt schön war.“

Ein Abgrund von betrogener Hoffnung spricht aus diesem Satz, der zugleich an die französische Stimmung in jenem Mai 1981 anknüpft, als alles nur besser zu werden schien. Mitterrand muß gewußt haben, daß die Hoffnung Hoffnung bleiben würde. Der Krebs, an dem er jetzt gestorben ist, plagte ihn schon zu seinem Amtsantritt. Zwei ganze Amtszeiten und fast acht Monate Ruhestand hielt er noch durch. Dominic Johnson

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen