: „Barbar sein will gelernt sein“
Im zweiten Teil des Geburtstagsgesprächs steht Heiner Müller vor der Wahl: Wilhelm-Busch-Album oder Weltatlas, Barbarei oder Untergang, Klodeckel schließen oder alles oben lassen? ■ Von Gabriele Goettle
Gestern lasen Sie, wie Heiner Müller mal „was ganz Dummes“ schreiben wollte und wie er in Rio de Janeiro „fast krepiert“ wäre. Heute der zweite und letzte Teil:
Dramatiker: Das Schöne am Amazonas ist erst mal lacht ... die Vereinigung mit dem Rio Negro. Der eine ist schwarz, glaub' ich, der andere braun, und ein paar Kilometer lang fließen sie noch zusammen, getrennt in Schwarz und Braun. Das ist aber nicht das Wesentliche, schlimm ist der furchtbare Kontrast, also Manao, diese Stadt ... Herzog und so weiter ... Das ist das Fürchterlichste, was ich an Stadt je gesehen habe, völlig verkommen und kaputt. Es ist nicht auszuhalten. Und am Amazonas zeigen sie dann ein paar Indianer... man kann darüber nicht reden. Ich kann darüber nicht reden...
Künstlerin: Jedenfalls fliegst du dann nach Hause und hast keine Probleme damit...
Dramatiker: Damit, daß ich da gewesen bin?
Künstlerin: Angeblich. Warst du wirklich dort, wenn du daheim bist?
Dramatiker: Das ist die Frage...
Künstlerin: ... oder bist du wirklich daheim, wenn du daheim bist?
Dramatiker: Nee, was soll ich da für Probleme haben?
Autorin: Wir haben damit Probleme...
Künstlerin: ...auch wenn wir nicht das Haus verlassen.
Dramatiker: Was denn für Probleme?
Künstlerin: Keine wirklichen. lacht
Autorin: Von wem ist dieser Satz schnell „Mein Gott...“, von Horvath?
Künstlerin: Nix mein Gott, „Herrgott, ich möchte leben, wie ich lebe“...
Autorin: Das ist es. Wir sind immer hoffnungslos daneben, nicht dabei...
Künstlerin: Aber er ist ja so kühn und spricht von seiner eigentlichen Existenz.
Dramatiker: Von welcher Existenz?
Künstlerin: Tausendmal zitiert! Und als du im Mai hier gewesen bist, hast du dich sogar selbst zitiert, das Schlimmste, was man machen kann...
Dramatiker: kichernd Wen soll ich denn sonst zitieren?
Künstlerin: Du hast gesagt: „Meine eigentliche Existenz ist im Schreiben.“ lacht
Dramatiker: Stimmt, ja...
Künstlerin: Du schreibst ja nie! Bist dauernd in Brasilien...
Autorin: Das sagt er angesichts des Rundblicks, aus vollem Herzen...
Dramatiker: Hab' ich das in Brasilien gesagt? Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.
Künstlerin: Woher soll ich es wissen?
Dramatiker: nach längerem Schweigen ... Na, was du meinst, ist doch eigentlich, daß ich, wenn ich auf diesem komischen Berg stehe, Rio sehe und das Bedürfnis habe, diese Landschaft zu verschlingen, dann dran denken muß ... an die zwölf Millionen DDR-Bürger, die das nicht sehen können ... Enorme Heiterkeit der Damen
Autorin: Absurde Idee ... ein vollkommenes Mißverständnis...
Dramatiker: Das meint ihr nicht? Denn das kann ich nicht... das hab' ich mal beschrieben. Das meine ich ... aber das kann ich nicht mehr!
Künstlerin: Das würde ich als DDR-Bürger auch verurteilen, wenn die Privilegierten dann auch noch rumtranen im Ausland ...
Dramatiker: Das wäre das Letzte, ja ...
Künstlerin: Die Drittweltler würden sich auch schön bedanken, wenn hier ein einziges Barmen herrscht ...
Dramatiker: Da gab's noch ein schönes Erlebnis, das wir hatten, das war in Salvador, bei einem Reggae-Konzert auf einem dieser berühmten Plätze, vor dem Armado-Museum. Die Bevölkerung ist ja zu 80 Prozent schwarz, es waren also fast nur Schwarze auf dem Platz, und die bewegten sich wie die Wahnsinnigen. Wir waren sieben oder acht Bleichgesichter in dieser Menge. Da kommt man sich schon ein bißchen merkwürdig vor. Jedenfalls, zwei Schwarze kamen und wollten meiner Freundin Reggae beibringen, und das haben sie dann auch gemacht lange Zeit. Irgendwann wollten wir gehen, wurden aber die beiden nicht los. Sie kamen immer hinter uns her und sagten „cooperatia, cooperatia...“ Wir haben dann ein Taxi gefunden, wir stiegen ein, und der Fahrer wollte los ... aber die beiden immer am Fenster, wollten die Tür aufmachen und riefen „cooperatia, cooperatia!“ Wir dachten natürlich Schlimmstes. Es stellte sich aber später heraus – das sagte uns ein kundiger Cambridge-Student, sie wollten weiter nichts als Geld haben, was ich nicht begriffen hatte...
Autorin: Die wollten Bezahlung für den Unterricht.
Dramatiker: Klar, für den Unterricht und das Frühstück. Das habe ich mir wirklich wochenlang vorgeworfen, daß ich das nicht begriffen hatte. Es wäre ja kein Problem gewesen ... bloß, ich hatte natürlich ganz was anderes gedacht. Und am nächsten Abend traf ich auf einer Party einen Herrn, so einen versprengten 68er, der dort am Goethe-Institut war, ihm erzählte ich die Geschichte, und er sagte dann den guten Satz: „Na, Sie kriegen doch auch Ihre Tantiemen.“
Autorin: Der gebildete Westeuropäer, der glaubt ja immer, die Wilden machen alles aus Leidenschaft, es käme von innen heraus, die können gar nicht anders ...
Künstlerin: Wehe nicht!
Dramatiker: lacht unecht, schenkt sich nach Das sind so die Mißverständnisse ...
Künstlerin: Wir sind ganz Ohr... Beispielsweise gibt es da folgendes Phänomen: In dieser Wohnung, wenn Besuch kommt, machen immer und ausschließlich Männer den Klodeckel zu.
Dramatiker: Da wollte ich grade vorhin drüber reden, als ich vom Klo reinkam. Ich war mal auf einer Party in Berkeley bei Feministinnen. Da habe ich die Klobrille nicht zugemacht und wurde sofort entlarvt als der übelste Phallokrat und Chauvi ...
Künstlerin: Aber du hast ja nicht nur die Brille runtergemacht, sondern auch den Deckel...
Dramatiker: Das war dann der Übereifer, der aus dieser Erinnerung herrührt ...
Autorin: Und so machen alle Männer hier alles zu, um zu verbergen, daß sie überhaupt gepißt haben ...
Dramatiker: Damals hab' ich sie oben gelassen, das war die Hölle...
Künstlerin: Da war der Bär los.
Autorin: Jetzt ist der Bär los, weil du alles zumachst.
Dramatiker: Ich werd's mir merken.
Autorin: Was machst du denn das nächste Mal?
Dramatiker: höhnisch Ich lasse alles oben.
Autorin: Das hast du jetzt gesagt, um zu beweisen, daß du doch nicht so freundlich bist, wie du wirkst.
Dramatiker: Freundlich bin ich ja nicht wirklich. Es ist eher ein Laster, so freundlich zu sein. Das beste Mittel, Leute von sich abzuhalten ...
Künstlerin: ...ist vorauseilende Freundlichkeit.
Dramatiker: Genau!
Autorin: Dabei wollten wir doch gar nichts von dir.
Künstlerin: Nur, daß du alles aufs Tonband sprichst ...
Autorin: Leider ist das ganz schlecht, so ein Tonbandgerät...
Dramatiker: Es korrumpiert.
Künstlerin: Mich hat's schon korrumpiert. Ich hab' ja früher kein Wort gesprochen, wenn so ein Ding in der Nähe war... Autorin: Jetzt sprichst du wie ein Wasserfall...
Künstlerin: Du bist schuld, daß ich korrumpiert bin!
Dramatiker: lacht Und Bekenntnisse willst du auch noch, aber ich habe nichts zu bekennen. Das einzige, was ich nicht offen sage, ist meine Meinung. Und ich werde mich auch hüten, das jemals zu tun.
Künstlerin: Teile jede Meinung...
Dramatiker: lacht ... und sag nie deine eigene.
Künstlerin: Wer braucht deine Meinung und wozu? Ist doch völlig überflüssig ...
Dramatiker: Ja, ich glaub', das ist jetzt auch vorbei mit der Meinung.
Künstlerin: österreichisch ...und wie moanens dös jetzt nacher? reckt sich so Jetzt bin ich gleich blau, und wie soll ich jetzt noch was zeichnen?
Dramatiker: Locker, locker ... was zeichnest du denn?
Künstlerin: Die Geschichte von Christi Nachgeburt.
Autorin: Das gibt doch bloß wieder einen Blasphemieprozeß...
Dramatiker: Was ist denn die Nachgeburt von Christus?
Künstlerin: Die heilige Plazenta ... Gelächter und Husten
Autorin: Die gibt es nicht!
Künstlerin: Bei jeder Geburt gibt es eine Nachgeburt!
Dramatiker: Du kannst vielleicht ein Brecht-Zitat verwenden: „Das Würgen der Nachgeburt gegen Morgen zu ...“, es hat so einen biblischen Tonfall...
Künstlerin: Niemand kümmert sich um die Nachgeburt...
Dramatiker: Aber so rein ideologisch gesehen, die Nachgeburt müßte eigentlich die Kirche sein!
Künstlerin: lacht ... die Kirche und ihr wichtigster Agent, der Weihnachtsmann, der sich als Zuhälter und Dealer ja schon an die Kleinsten ranmacht...
Dramatiker: ...mit dem Opium...
Künstlerin: ... dann werden aus kleinen fröhlichen Heiden gefährliche Abhängige.
Dramatiker: Ich habe auch ein Weihnachtstrauma. An irgendeinem Weihnachten in meiner Kindheit wurde ich vor die Wahl gestellt, entweder das Wilhelm- Busch-Album zu kriegen oder einen Weltatlas. So was dürfen ja Eltern nie machen, das ist ein ganz schwerer Fehler. Der ganze Zauber ist zerstört. Aber wir hatten nicht viel Geld, und sie haben – mit einer Nachbarsfamilie zusammen – über ein Versandhaus bestellt. Da ergab sich dann die Frage, wer will was, wer kriegt was. Ich hab' mich damals für den Weltatlas entschieden, sah aber dann bei dem anderen Knaben das Wilhelm- Busch-Album ... Natürlich war ich stinksauer. Das wäre mir wahrscheinlich umgekehrt genauso gegangen, ich weiß es nicht. Jedenfalls, die andere Familie ging auch zu Bruch darüber. Der Mann hat sich später umgebracht, genau wie mein Vater ...
Autorin: Wir können ja dieses Trauma rückgängig machen, indem wir dich wiederum vor eine Wahl stellen ....
Dramatiker: Jetzt macht es mir ja nichts mehr aus!
Autorin: Na warte mal, das fragt sich noch ...
Dramatiker: Stell mich mal vor eine Wahl!
Künstlerin: feierlich Wir stellen dich vor die Wahl: Barbarei oder Untergang, was wählst du zu deinem Geburtstag?
Dramatiker: lacht haltlos; dann entschieden ... Untergang!
Autorin: Schon wieder falsch ..., und der Nachbar freut sich ...
Dramatiker: So hat jeder seine Freude...
Künstlerin: Untergehen kann jeder. Aber im Kollektiv ...
Dramatiker: Barbar sein will gelernt sein!
Künstlerin: Die Barbarei ist schon wieder so anstrengend. Aber noch hegen wir die Vorstellung, daß der Untergang euphorisch sein könnte ...
Dramatiker: Doch, doch, kann schon...
Autorin: Nee, nee! Der Herr kommt jetzt auch allmählich in das Alter, wo er diese Illusion...
Dramatiker: fröhlich ... braucht, braucht!!
Künstlerin: österreichisch Wos wird sein – olle werns z'haus sitzen wie die Gruftmuffler...
Autorin: während der Dramatiker mit einem furnierten Holzröllchen eine Zigarre entzündet... Mhm ... das riecht sehr gut.
Dramatiker: Es ist Sandelholz.
Autorin: Deshalb!
Der Dramatiker legt das brennende Röllchen in den Aschenbecher und entfacht darin einen lodernden Brand. Niemand schreitet ein.
Autorin: Ja ... so wird's dahingehen...
Künstlerin: Du fängst schon an, die letzten Sätze vom Herrn Karl zu sprechen österreichisch ... no jo, schaun mir uns an, wie's weitergeht.
Autorin: Schließlich ist er ja hier der Geburtstagshengst mit Ehranspruch.
Künstlerin: Hengst, Hengst! Er ist die Geburtstagsfärse. Du hast ihn ja extra hergebeten, wolltest große Worte machen ...
Autorin: Ich ...
Künstlerin: Du, ja. Was hat sie gesagt zu dir am Telefon, sie will dich und deine Anhänger zur Schnecke machen?
Dramatiker: So was in der Art...
Künstlerin: Und was war? Kerzenschimmer ...
Dramatiker: Hundelächeln ...
Autorin: Er hat seinen Anhängern nichts zu sagen.
Künstlerin: Nichts vorzuwerfen...
Dramatiker: ... und sich selbst auch nicht!
Autorin: Selbstentblößung ist das Ekelhafteste, was man sich vorstellen kann.
Künstlerin: Wieso? Die Recherche kennt kein Tabu.
Dramatiker: Ich werd' jetzt ein Taxi bestellen.
Autorin: Die Zigarre kannst du noch zu Ende rauchen.
Dramatiker: Die rauch' ich sowieso zu Ende. kleine Pause Ich weiß nicht, ob du was damit anfangen kannst, aber du kannst alles machen, keine Frage! Du kannst ja auch einfach beschreiben, wie wir hier sitzen ...
Autorin: Mir fällt schon was ein.
Dramatiker: Der bedeutendste Satz von meiner Mutter ... zu einem Menschen in der DDR – der hatte auch ein Tonband auf sie angesetzt –, dem hat sie erzählt von meiner Geburt und sagte den bedeutenden Satz: „Der Heiner wollte nicht kommen.“
Autorin: Das ist ja bis heute so geblieben.
Dramatiker: streichelt den Hund ... ich habe noch nie ein Tier kennengelernt, mit dem ich Probleme gehabt hätte ...
Autorin: Normalerweise beißt dieser Hund jeden in die Nase, bis das Blut spritzt, besonders dann, wenn Fremde sich gütig über ihn beugen. Wir haben's dir nur nicht gesagt ...
Dramatiker: Mich nicht ... bestellt ein Taxi, zieht Jackett und Mantel an ... ich kann euch noch einen Spruch von Ernst Bloch hinterlassen: „Schlafend gelangt Odysseus nach Ithaka.“
Künstlerin: Odysseus ... aber unsereiner? umarmt den Dramatiker zum Abschied ... jetzt geht er ungebissen ...
Autorin: Ungebissen gelangt Odysseus ... ich bring dich runter.
Dramatiker und Autorin gehen gemeinsam ab, die Künstlerin öffnet die Balkontüren. Herein die Autorin.
Autorin: Weg isser.
Künstlerin: Ganz schön zugenommen hat er.
Autorin: Alle nehmen ganz schön zu ...
Künstlerin: Der Mann wächst mit seinen Aufgaben.
Freundliches Gelächter; der Vorhang fällt
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