: Kunst zum Anfassen
■ Spezielle Museumsführungen lassen Blinde die Ausstellungen ertasten
Im Kassenraum des Alten Museums versammelt sich eine Gruppe von Besuchern mit Blindenstöcken und dunklen Brillen. Blinde an diesem Ort? Bilder können sie nicht betrachten, und die obligatorischen Schildchen „Bitte nicht berühren“ verbieten ihnen den direkten Kontakt. Doch Ausnahmen bestätigen die Regel. In der Ausstellung „Architekturmodelle der Renaissance“ treffe ich die Gruppe vor dem etwa acht Meter langen Holzmodell des Doms von Pavia wieder. Behutsam gleiten die Finger der Blinden über Kapitelle und Fensterrahmen des Kirchenbaus: „Fühl mal, wie wunderbar fein die Säule gearbeitet ist“ oder „So schön hatte ich mir das nicht vorgestellt“. Bei den zehn Teilnehmern der Führung herrscht Begeisterung.
Andres Lepick, der Führer der Gruppe und Mitorganisator der Ausstellung, war bei der Idee einer speziellen Führung für Blinde zuerst skeptisch: „Ich war mir nicht sicher, wo ich eigentlich mit ihnen hingehen sollte und ob es Sinn hätte, ihnen die Bilder zu erklären.“ Die Schwierigkeit habe auch darin bestanden, daß die Blinden zu Anfang wenig Resonanz auf seine Ausführungen zeigten, während Sehende über Gestik und Mimik erkennen lassen, was sie interessiert. „Bei den Blinden kam das erste Mal richtige Begeisterung auf, als ich sie, begleitend zu meinen Erklärungen, eine Säule abtasten ließ. Ich hatte die ganze Zeit Angst, das Podest, auf dem sie steht, könnte das Gewicht der Gruppe nicht aushalten.“
Solche Probleme sind selten im normalen Museumsalltag. Blindenführungen durchbrechen die Norm, und das bekommt der stellvertretende Vorsitzende des Blindenvereins Berlin, Dr. Detlef Friedebold, immer wieder zu spüren. „Die Museumsmitarbeiter sind meistens wirklich verblüfft über mein Anliegen und sagen erst mal nein.“ Die Bedenken sind groß, Kunstwerke könnten durch die Berührungen Schaden nehmen. „Wenn ich aber beispielsweise eine Schulklasse durch die Ausstellung führe, ist das gefährlicher“, so die Erfahrung von Lepick. „Man könnte von einem kontrollierten Risiko sprechen.“ Außerdem gebe es robuste Kunstwerke, meint Lepick: „Ich könnte mir Blindenführungen auch gut in der Skulpturen-Ausstellung ,Von allen Seiten schön‘ im Alten Museum vorstellen. Bronze ist unempfindlich, und viele der Skulpturen waren draußen der Witterung ausgesetzt.“
Diese offene Einstellung zur Besuchergruppe der Blinden ist noch die Ausnahme. Doch Friedebold, der selbst mit neunundzwanzig Jahren erblindete und heute für den Bereich Kultur und Freizeit des Blindenvereins verantwortlich ist, kann von einigen positiven Erfahrungen berichten: „In der Ehrenhalle der Gedächtniskirche hat man die Vitrinen für uns geöffnet, und wir konnten die Abendmahlskelche in die Hand nehmen. Wenn wir früher die Mosaiken an den Wänden abtasten wollten, mußten wir uns auf die Zehenspitzen stellen, heute steht extra ein kleines Holzpodest für uns bereit. Auch das Museum für Verkehr und Technik hat sich auf Blinde eingestellt. Als ich vor mehr als zehn Jahren dort um eine Blindenführung bat, rief das noch das übliche Erstaunen hervor. Inzwischen wird jeden Monat eine Führung mit besonderem Schwerpunkt angeboten. So konnten wir zum Beispiel in der Mühle jeden Arbeitsgriff eines Müllers nachvollziehen.“
Trotz dieser Fortschritte hinken deutsche Museen den Anstalten anderer Länder hinterher. England geht mit gutem Beispiel voran. In vielen Kathedralen stehen Grund- und Aufrißmodelle der Bauwerke speziell für Blinde bereit, und auf Tonbändern werden Erklärungen zur Architektur geliefert. In Deutschland hingegen verschwinden Architekturmodelle noch häufig in Vitrinen oder werden einfach vergessen. Friedebold nennt ein aktuelles Beispiel: „Die rote Infobox am Potsdamer Platz kostete 10 Millionen Mark, aber man hat dort nicht ein einziges einfaches Modell für uns aufgestellt. Wie sollen wir uns ein Bild von unserer Stadt machen?“
Selten werde der Verein auf interessante Ausstellungen aufmerksam gemacht klagt Friedebold. Oft hilft nur der Zufall bei der Suche. „Doch dann ist es schwierig, Führungen kurzfristig zu organisieren“. Katrin Ohlhoff
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