: Essentielles Medium
■ betr.: „Der Rest ist Schreiben“ (Point'n'Click), taz vom 4. 1. 96
Daß Tilman Baumgärtel inhaltlich anspruchsvollen, mit reichlich Text ausgestatteten CD-ROMs nichts abgewinnen kann, ist seit seiner Rezension der Weißen Rose klar. Dieser Standpunkt mag ja angehen, aber diesmal ist seine Kritik ignorant und falsch.
Baumgärtel schreibt zur Graf-CD: „Ein paar Minuten Radiointerview (...), zwei kurze Videoclips, das war's.“ Tatsächlich enthält die CD-ROM fünf Stunden Lesungen aus dem Werk, dargeboten von Jörg Hube, zwei Stunden Originaltöne Graf aus seinem noch unveröffentlichten Nachlaß, 20 Minuten gesprochene Einführung in das Werk von Wilfried F. Schoeller, 15 Minuten Video, Faksimilereproduktionen von Briefen, von Dokumenten zur bayerischen Räterepublik, Fotos: summa summarum 600 Abbildungen und natürlich über 1.000 Seiten Text. Wenn eine CD-ROM eine derartige Materialfülle versammelt, die weder ein Buch noch eine Kassette oder ein anderes Medium bieten kann, hätte sie dann nicht eine angemessene Auseinandersetzung verdient? [...]
Dasselbe bei Thomas Mann. Auf der Panoramagraphik sind Audioinformationen abrufbar. Baumgärtel schreibt: „Zu häufig gibt's leider nur einen Auszug aus Manns Tagebuch.“ Nein, nur zehn Minuten von 45 entstammen den Tagebüchern. Ansonsten bietet die CD-ROM zirka 20 Meter Panoramagraphik, sieben Stunden Originalton, zirka 400 Fotos und Faksimili und über 3.000 Seiten Text. Das interessiert Baumgärtel nicht, er sucht nach Videos. Es gibt in der Tat Filmausschnitte, auf denen TM zu sehen ist. Warum sollten wir sie reproduzieren, wenn wir eine Überfülle von Originaltönen zur Verfügung hatten?
Durch die Kooperation mit dem Thomas-Mann-Archiv war eine Auswahl aus zirka 84 Stunden Ton und mehreren 1.000 Bildern zu treffen. Multimedia ist kein Fetisch, wenn Audio- und Bildmaterial inhaltlich sinnvoller sind, werden wir uns immer dafür entscheiden, zumal beim gegenwärtigen Stand der Technik, bei dem Video allenfalls eine exemplifizierende Funktion zukommt. Ich finde die Videosuche darüber hinaus geradezu borniert, weil sie die Frage der inhaltlichen und formalen Angemessenheit unserer Projekte überhaupt nicht mal zu thematisieren versucht. Inhalt und Form gehören zusammen, immer noch.
Warum Text auf einer CD- ROM? Ich sehe gar nicht ein, warum der User auf ein derart essentielles Medium verzichten sollte. Text in der von uns verwendeten Größenordnung lädt nicht etwa dazu ein, Seite für Seite gelesen zu werden, er ist ein Potential, das dem Benutzer je nach Interessenslage oder Blickwinkel zur Verfügung steht: Optimal, wie es im Userdeutsch heißt. Text auf unseren CDs wird mit einer Reihe von Bearbeitungsfunktionen versehen: Er läßt sich kopieren, mit Anmerkungen versehen, mit kommentierbaren Lesezeichen ausstatten, in ihm läßt sich mit Volltextsuche recherchieren, es sind ihm sachverwandte Ton-, Bild- und Textdokumente zugeordnet. Ein Buch bietet das nicht, ich vermute, die taz-CD- ROM ist nach ähnlichen Standards gebaut. [...] Franz-Maria Sonner, Herausgeber der CD-ROMs zu Thomas Mann und Oskar Maria Graf, München
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