: Erst die Arbeit – und dann?
■ Beratungsstelle für Erwerbslose entwickelt mit Betroffenen Gestaltungsmöglichkeiten für ein Leben mit und ohne Arbeit
Als Lücke im Lebenslauf, nicht als eine im Leben, möchte die Psychologin Renate Schumak Arbeitslosigkeit verstanden wissen. Daß es Betroffenen schwerfällt, die Sache so zu betrachten, weiß sie aus ihrer Beratungstätigkeit. Gemeinsam mit drei weiteren angestellten und rund 20 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern berät sie Erwerbslose und Menschen, die einen nur geringen Verdienst oder Sozialhilfe erhalten: Gestern zog die Solidarische Psychosoziale Hilfe Hamburg (SPSH) für das vergangene Jahr Bilanz.
750 Betroffene haben sich 1995 an die SPSH gewandt, die meisten jünger als 40 Jahre, zwei Drittel von ihnen Frauen. „Fast alle erleben den Kontakt mit Behörden als ungeheuren Druck“, sagt die Psychologin Anja Richter. Sie seien existenziell von Entscheidungen anderer abhängig. Immer noch würde Erwerbslosen Bequemlichkeit oder mangelnde Leistungsfähigkeit unterstellt.
Der Verlust einer objektiven – beruflichen – Perspektive beeinträchtige auch die Fähigkeit von arbeitslosen Menschen, eine persönliche Perspektive zu entwickeln. Nichts und niemand strukturiert ihren Tagesablauf, berufliche Kontakte fehlen. Im privaten Bereich flüchteten Betroffene oft selbst in die Isolation, um den drängenden Fragen nach ihrer Situation auszuweichen.
Ängste, depressive Stimmungen und der Verlust des Selbstwertgefühls mündeten nicht selten in Süchte oder Depressionen – Erkrankungen, die die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen dann tatsächlich beeinträchtigen. Der psychologische Dienst des Arbeitsamtes könne nur begrenzt Hilfe leisten. „Viele empfinden diese Einrichtung als zu behördennah“, meint Richter.
Die SPSH wird von der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales gefördert. Die kostenlosen Beratungsgespräche werden strikt vertraulich behandelt, auch der Behörde und dem Arbeitsamt gegenüber. Wer möchte, kann anonym bleiben. Neben einmaligen Gesprächen und Gruppenberatungen bietet die SPSH auch eine längerfristige Einzelbetreuung an. In regelmäßigen Gesprächen werden Perspektiven entwickelt, Prioritäten gesetzt – und deren Einhaltung auch überprüft. Es sei eine unterstützende Arbeit, betont Richter, aber dennoch eine sehr harte. Die Betroffenen setzten sich mit einer sehr unangenehmen Situation auseinander. Und lernen, ein Leben ohne Erwerbsarbeit zu gestalten.
Das Ziel könne nicht grundsätzlich die erfolgreiche Bewerbung um einen neuen Arbeitsplatz sein. „Unsere Arbeit ist sehr erfolgreich, was die Entwicklung einer subjektiven Perspektive betrifft“, meint Schumak. Deren Umsetzung sei aber oft äußerst schwierig. „Wir werden die Arbeitslosigkeit nicht abschaffen“, meint die Psychologin. Je mehr Betroffene es gebe, desto sinnvoller wäre es, ihnen das Leben so einfach wie möglich zu machen. Meist sei das Gegenteil der Fall. Stefanie Winter
SPSH, Bartelsstraße 30,
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