Europa liegt in der Vahr

■ BRAS-Jugendliche bauen Schulräume in Bremen oder Klöster in Spanien um und entwickeln eine Fremdsprachendidaktik

Die Stimmung ist bestens. 25 junge Menschen aus zehn Nationen scharen sich bei Kaffee und Butterbroten um einen großen Tisch. Seit halb acht morgens haben sie gesägt, geschraubt, geschmirgelt und geschliffen. In der Mittagspause haben sie Zeit, miteinander zu plaudern. Französische Sprachbrocken mischen sich mit spanischen, englische mit deutschen. Irgendwie klappt das, jedenfalls gibt es viel zu lachen.

Für 12, eventuell auch 24 Monate haben die Jugendlichen einen Arbeitsplatz bei der Bremer Arbeitslosenselbsthilfe (BRAS) gefunden. Die BRAS gehört seit acht Jahren zu den Bremer Bildungsträgern und baute mittlerweile 16 Projekte auf, die über die ganze Stadt verteilt sind. Sie dienen der Beschäftigung arbeitsloser Jugendlicher, junger Erwachsener ohne Berufsausbildung beziehungsweise Langzeitarbeitsloser, die durch die Arbeit bei der BRAS einen Wiedereinstieg in ein normales Berufsleben finden sollen.

Eins der 16 BRAS-Unternehmungen ist das Tischlereiprojekt in der Vahr. Ursprünglich sollten hier nur 15 Menschen arbeiten, doch die Warteliste bei der „Werkstatt Bremen“, welche die AspirantInnen im Auftrag des Sozialressorts an die BRAS vermittelt, ist lang. Ohne die BRAS hätten besonders ausländische Jugendliche kaum eine Chance, jemals aus der Sozialhilfe rauszukommen. Mehr als die Hälfte der angehenden Tischlereigehilfen in der Vahr stammen aus Gambia, Zaire, Afghanistan, Kuba, Togo, Nigeria, dem Iran, der Türkei oder Polen.

Wie sie haben auch die Deutschen Glück, denn in Ernst Krose fanden sie nicht nur einen Pädagogen, der zu ihnen paßt, sondern auch einen pfiffigen Projektleiter. So bewältigte er etwa jene Krise, die dem Projekt Ende 92, als die ABM-Mittel drastisch zurückgefahren wurden, beinahe das Aus gebracht hätte. Krose organsisierte Gelder aus dem europäischen Sozialfonds und baute das Konzept um: Bislang hatte man vorwiegend Auftragsarbeiten gemacht, die ein hohes Maß an Perfektion von den Jugendlichen verlangten, obwohl diese erst am Anfang ihrer Ausbildung standen. Das hatte oftmals zu Frust und Motivationsabfall geführt. Krose löste diese Probleme, indem er die Auszubildenden selbst zu Lehrenden machte:

Er leitete die Kooperation mit mehreren Schulen ein, wo die SchülerInnen unter der Ägide der BRAS-MitarbeiterInnen Caféterias bauten, Klassenräume wohnlich machten, Möbel konstruierten. Das Rezept ging auf, da im BRAS-Projekt ein Zimmermann, ein Tischler sowie ein ehemals arbeitsloser Architekt aus dem Iran die Anleitungen geben. Mit so qualifizierten Leuten im Rücken waren selbst die schwächsten BRASslerInnen, so Krose, den SchülerInnen „immer eine Nase voraus“.

Gemeinsam wurde gebaut, geplant und entworfen, 30 Projekte an 14 Schulen wurden realisiert. Das Motivationsproblem ist längst überwunden, die anfänglich sehr zurückhaltenden Jugendlichen, die nun ständig auf neue Menschen zugehen mußten, erhielten Selbstsicherheit und erfuhren ihre „innere Mobilität“. Davon profitierten auch die Jüngeren: Nicht nur, daß sie durchs Bauen signifikant bessere Leistungen im Matheunterricht brachten, auch ihre Fremdsprachkenntnisse erhielten einen Aufschwung. Denn bei den drei- bis vierwöchigen Baumaßnahmen entwickelten sich quasi automatisch regelrechte Sprachlehrgänge, zumal Ernst Krose stets darauf Wert legte, daß die SchülerInnen etwas über die Herkunftsländer ihrer „LehrerInnen“ erfuhren.

Warum nicht in die Ferne streben, fragte sich schließlich der agile Projektleiter und hielt Ausschau nach vergleichbaren Projekten im Ausland. Schnell wurde er in Frankreich und Spanien fündig, wo sogenannte Werkstattschulen ehemals langzeitarbeitslosen Jugendlichen eine zumindest vorübergehende Perspektive bieten. Die BRAS-mitarbeiterInnen reisten in die Pyrenäen, um gemeinsam mit französischen KollegInnen verlassene Dörfer wieder aufzubauen. In Spanien wurde ein altes Kloster restauriert, eine Kirche erhielt neue Fenster, eine Werkstatt wurde ausgebaut. Seit 94 war die BRAS-Gruppe allein viermal in Spanien. Im vergangenen Jahr erhielt sie ihrerseits Besuch aus Spanien.

Dieser rege Austausch inspirierte Ernst Krose zu einer neuen Idee. Bei den internationalen Begegnungen hatte sich herausgestellt, daß die Sprachprobleme der Jugendlichen nicht über die Lektüre von Lehrbüchern auszuräumen sind. Das, was darin steht, ist auf ihre Bedürfnisse nicht zugeschnitten. Die Bücher zeigen nicht, wie man auf Spanisch einen Werkzeugkoffer packt oder wie man „unter den Nagel reißen“ übersetzt. Ernst Krose stellte fest, daß es keine Fremdsprachendidaktik gibt, die auf die Kommunikationsform der Jugendlichen zugeschnitten ist.

In zwei Jahren wird die erarbeitet sein, und zwar von der BRAS-Tischlergruppe Bremen, gemeinsam mit einem spanischen und einem französischen Projekt. Wissenschaftlich begleitet wird die Arbeit von der Fremdsprachenuniversität in Besancon, finanziell abgesichert durch das neuaufgelegte Brüsseler Programm „Leonardo“.

Die Jugendlichen sind von der neuen Idee begeistert. Stolz können sie auf ein Video-Wörterbuch verweisen, das sie bereits in Spanien erstellt haben. Angedacht ist auch eine CD-ROM, mit der sich Alltagsszenen mehrsprachig nachstellen lassen. Zunächst aber muß die Tür herhalten, die mit Tafelfarbe angemalt wurde. In drei Sprachen steht dort von Hand geschrieben: „Kann ich dir bei der Arbeit helfen?“ Dora Hartmann