Ständig den Tod vor Augen

Knapp ein Jahr nach Beginn des Bürgerkrieges in Ruanda hat sich das Leben nach außen wieder normalisiert. Doch die Wunden bei den Tutsi sind tief. Geblieben ist Angst. Und die Hoffnung auf Frieden  ■ Aus Kigali Bettina Gaus

Vor ein paar Tagen ist Jean wieder in die Straße zurückgekehrt, in der er früher gewohnt hat. Eigentlich meidet er diesen Teil der ruandischen Hauptstadt Kigali. „Ich will da nie mehr leben. Da könnte ich nicht schlafen. Diese Straße wird für mich nie die gleiche sein wie andere Straßen. Bis zum Tod nicht.“ Hingegangen ist er trotzdem. Er hat Fotos gemacht von den Schauplätzen der Ereignisse, deren Zeuge er geworden ist: den Massakern an unbewaffneten Zivilisten, verübt von Milizen der früheren Einheitspartei, der systematischen Ausrottung ganzer Familien durch Militärs. „Ich denke jeden Morgen daran. Immer, wenn ich versuche, es zu verdrängen, überfällt es mich nur noch stärker.“ Was er in seiner alten Umgebung eigentlich genau wollte, weiß Jean selbst nicht so recht. „Irgendwie war es so eine Art Bestandsaufnahme. Ich habe mich morgens ganz schlecht gefühlt, und da habe ich eben beschlossen zurückzugehen.“ Die Bestandsaufnahme findet im Kopf des 28jährigen statt. Zu sehen gibt es nichts. Fotografieren lassen sich nur noch Straßen, Häuser, Geschäfte. Alle Spuren der Ereignisse sind getilgt.

In Jeans ehemaliger Wohnung, die er mit einem Freund geteilt hat, wohnen längst neue Mieter: eine Familie, die jahrelang im Exil in Burundi gelebt hat und all das nicht mitbekommen hat, was sich im letzten Jahr hier ereignete.

Das Grauen begann am 7. April 1994, einen Tag nach dem Abschuß des Flugzeugs mit dem ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana an Bord. „Mit einer Todesliste sind zwei Soldaten mit ein paar Zivilisten von Haus zu Haus gegangen. Sie haben mit den Tutsi- Familien angefangen, weil die schon am längsten im Viertel wohnten und gut bekannt waren. Von Junggesellen wie uns wußte man nicht viel.“

Das hat Jean das Leben gerettet. Auch er und sein einstiger Mitbewohner gehören zur ethnischen Minderheit der Tutsi, von denen im letzten Jahr zwischen einer halben und einer Million Kinder, Frauen und Männer einem Völkermord zum Opfer gefallen sind. Der zierliche, unauffällige Angestellte wohnte erst seit zwei Jahren in diesem Stadtviertel. Nur wenige kannten ihn näher. Die meisten wußten nicht, zu welcher Bevölkerungsgruppe er gehörte.

„Mit der Liste waren sie am ersten Tag fertig.“ Dann errichtete die Kommunalpolizei eine Straßensperre, 200 Meter von Jeans Haus entfernt. Milizen kontrollierten jeden, der sie passieren wollte. „Da fing das mit den Macheten an. Kein Tutsi kam mehr durch.“ Manchmal sei alle fünf Minuten jemand niedergemetzelt worden. Später seien die Leute auch aus ihren Häusern oder von der Straße weg an die Sperre geschleppt worden, um umgebracht zu werden. Die Bevölkerung mußte sich unterdessen auf Befehl der Milizen meistens im Freien aufhalten. „Die offizielle Begründung war, daß der Feind nicht ins Viertel kommen konnte.“

Warum hat sich niemand gewehrt und wenigstens versucht zu kämpfen? Jean schüttelt den Kopf: „Man konnte sich nicht verteidigen. Die Leute, die nach dem Krieg gekommen sind, haben auch immer gefragt, warum sich niemand gewehrt hat. Ich wünsche ihnen nicht, daß sie je in die Lage kommen, aber wenn, dann werden sie sich ganz genauso verhalten wie wir.“ Er schweigt. „Wir sind einfach geblieben. Wir haben den Tod erwartet.“ Der Tod ist für ihn nicht gekommen. Die Massaker gingen weiter, Tag für Tag, Woche für Woche. Aber Jean und sein Freund blieben verschont. Sie tauchten in der Anonymität unter.

Jeans Augenzeugenbericht widerspricht dem Bild einer aufgepeitschten, blutrünstigen Masse, die machetenschwingend alles niedermetzelt, was sich ihr in den Weg stellt. Es seien eigentlich immer dieselben gewesen, die an der Straßensperre gemordet hätten: eine Gruppe von sieben oder acht Milizionären. Bedeutet das nicht, daß die Mehrheit der Bevölkerung dem Morden zwar zugesehen hat, es aber durchaus nicht billigte? Ist Jean nicht auch von denen geschützt worden, mit denen er auf der Straße stand und die ihn nicht als Tutsi denunzierten, obwohl einige seine Identität kannten? Jean will das nicht gelten lassen. „Das ist kein Schutz. Den Hutu war das egal, daß da gemordet wurde. Die Leute haben gesehen, wie gute Freunde von ihnen eine Frau mit Baby umgebracht haben, und sie haben nicht eingegriffen.“

Gewiß, es habe Hutu gegeben, die freundlich waren. Eine Familie versorgte ihn und seinen Freund heimlich über Wochen mit Nahrung. „Aber das waren auch keine reinen Hutu. Die hatten Verwandte unter den Tutsi. Die ganze ethnische Zuordnung ist ja nur deshalb so eindeutig möglich, weil sich die Zugehörigkeit ausschließlich danach richtet, zu welcher Gruppe dein Vater gehört.“

Das Bild, das Jean zeichnet, ist widersprüchlich. Ist er nicht ungerecht? Der 28jährige schweigt, rückt an seiner Brille. Miliz sei auch zu ihm in die Wohnung gekommen, berichtet er. Die Todesangst habe ihm Nervenstärke verliehen. Er habe Hände geschüttelt, freundlich geplaudert, sie zur Hausdurchsuchung aufgefordert. Hier seien keine Tutsi. Der Freund war unterdessen in seinem Schlafzimmer versteckt. Die Kaltblütigkeit überzeugte. Die Milizsoldaten zogen ab.

„Es war ein Freund von mir, ein Hutu, der ihnen mein Haus gezeigt hatte. Die Milizionäre gingen um 14 Uhr. Kurz danach kam mein Freund, mit einem Gewehr. Er fragte nur: Wo ist der Fernseher? Ich habe geantwortet: Der ist gestern gestohlen worden. Früher haben wir fast jeden Abend ferngesehen oder Musik gehört. Er wollte mich nicht töten, er wollte nur den Fernseher.“

Der einstige Freund ist kurz vor dem Ende des Krieges nach Goma in Zaire geflüchtet. „Er kann nicht zurück, er hat auch einen Mann getötet.“ Und wenn Jean ihn heute auf der Straße träfe? „Ich weiß nicht, was ich täte.“ Würde er nicht die Gründe wissen wollen, die den anderen zu seinem Tun veranlaßt haben? „Nein. Es ist zu spät.“ Jean lächelt. Die Pause, die folgt, scheint nicht enden zu wollen. „Ich wünschte, daß Gott mir das Herz zurückgäbe, das ich vor dem Krieg noch hatte.“

Noch immer leben Hunderttausende ruandischer Flüchtlinge in Lagern der Nachbarländer, vor allem in Zaire und Tansania. Jean meint, daß sie zurückkommen sollten. Die Schuldigen müßten allerdings bestraft werden. „Alle, die ich bisher noch nicht in meinem Viertel gesehen habe, sind schuldig. Die Unschuldigen sind zurückgekehrt.“ Heute hat Jean wieder täglich mit Hutu zu tun: bei der Arbeit, in der Kneipe, im Bus. Es mache ihm nichts aus, sagt er: „Es gibt viele Hutu hier. Ich könnte nicht in Ruanda leben, wenn ich jeden Tag negativ reagieren würde.“ Aber es gebe einen Unterschied zwischen gemeinsamer Arbeit und Vertrauen: „Ich habe kein Problem, mit einem Hutu zu arbeiten, aber Vertrauen ist etwas anderes. Man kann alles zusammen machen, am Vormittag lachen, aber das geht nicht tief. Abends ein Bier trinken zu gehen und über persönliche Sachen zu reden, das geht nicht. Wenn ein Hutu-Kollege Probleme bekäme, würde ich mich nicht einmischen. Ich weiß ja gar nicht, was er getan hat.“ Den Fall hat es gegeben. Ein Kollege von Jean saß zwei Monate im Gefängnis. Er wurde freigelassen, weil das Mädchen, das ihn des Mordes beschuldigt hatte, bei der Erhebung der Anklage als Zeugin nicht erschienen war. Jean zuckt die Achseln. Was davon zu halten sei, wisse er nicht.

Für ihn selbst waren die Schrecken mit dem Ende der Massaker nicht vorbei. Ende Mai 1994 geriet sein Viertel ins Kreuzfeuer der Gefechte zwischen Soldaten des alten Regimes und Truppen der später siegreichen Rebellenbewegung RPF (Patriotische Front Ruandas). Drei Tage versteckten sich die beiden jungen Männer unter ihren Betten, während die Geschosse in ihr Haus einschlugen. „Da hatten wir jede Sekunde Angst. Vorher hatte es wenigstens noch kurze Atempausen gegeben.“ Am schlimmsten war der Durst. „Am Abend des dritten Tages habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe eine Flasche Hautmilch getrunken, nur um das Gefühl zu haben, daß die Kehle nicht austrocknet. Es war unglaublich schwer, das Zeug herunterzubekommen.“ An Bauchschmerzen kann Jean sich nicht erinnern: „In so einer Situation ist der Körper unfähig, Schmerzen zu fühlen. Am Morgen des vierten Tages rannten die beiden durch die Kampfzone auf die Seite der RPF. Sie kamen durch. Bis zur Eroberung Kigalis durch die Rebellen blieben sie in einem Flüchtlingslager im Landesinneren.

Jean kehrte danach nicht in sein Haus zurück. Er zog zu einer befreundeten Familie in eine andere Straße. „Ich war krank. Völlig fertig. Der Krieg war zu Ende, aber ich konnte mich nicht freuen. Es lag wie ein Ring um mein Herz.“

Bis heute ist der Ring nicht gesprengt. Jean arbeitet wieder in seinem Büro wie etwa die Hälfte seiner ehemaligen Kollegen. Die andere Hälfte ist tot oder geflohen. Nach außen hin hat sich sein Leben wieder normalisiert. „Aber es gibt Momente, wo alles wieder vor meinen Augen steht, und dann mache ich irgend etwas, um es zu verarbeiten. Oft zeichne ich.“ Jeans Bilder zeigen verstümmelte Leichen, Kinder mit Greisengesichtern, Gräber. Aber auch blühende Bäume und lächelnde Familien: „Das ist der Friede. Die Hoffnung auf Frieden.“

Jean selbst hat keine Familie mehr. Seine fünf jüngeren Geschwister, für die er nach dem Tod der Eltern gesorgt hatte, sind bei den Massakern alle umgebracht worden. Darüber sprechen kann Jean nicht. Sonst muß er weinen. Am liebsten würde Jean für einige Jahre ins Ausland gehen – irgendwohin, wo ihn die Erinnerungen nicht ständig verfolgen. Aber wovon sollte er leben? Oft fühlt er sich einsam. Er wünscht sich eine Familie. Nach dem Ende des Krieges schnellte die Zahl der Hochzeiten sprunghaft in die Höhe. „Viele, die ihre Angehörigen verloren haben, suchen eben Wärme und Zuwendung.“

Über das, was er durchlitten hat, kann Jean mit niemandem reden – nicht einmal mit dem Freund, der alles mit ihm durchgestanden hat: „Damals waren wir ganz eng. Heute ist das anders. Er weint nicht, er zeigt keine Gefühle.“ Jean hält das für eine Folge der Erziehung. „Das Verhalten ist charakteristisch für viele Ruander. Ich glaube, daß diese Art der Erziehung die Ursache für all das ist, was geschehen ist.“ Sein Freund verschließe seine Empfindungen ganz tief in sich selbst. „Das ist gefährlich. Vielleicht tut er irgendwann etwas ganz Schreckliches.“