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Boris Jelzin übernimmt das Kommando

■ Tschetschenen nehmen Geiseln als Schutzschilde und beginnen mit Raketen russische Soldaten zu beschießen

Moskau/Perwomaiskaja (AFP/dpa/rtr) Die tschetschenischen Geiselnehmer haben gestern ihre aus Dagestan verschleppten Geiseln als menschliche Schutzschilde rund um das Dorf Perwomaiskaja postiert. Das berichtete die Nachrichtenagentur ITAR-TASS unter Berufung auf Informationen aus dem russischen Innenministerium. Zuvor hatten die Geiselnehmer das Feuer auf die russischen Truppen eröffnet. Sie beschossen mit Raketen und Granatwerfern Militärhubschrauber und die Positionen um den Grenzort Perwomaiskaja. Dabei wurden vier Soldaten verletzt. Es sei aber nicht zurückgeschossen worden. „Jetzt ist klar, daß die Kämpfer versuchen, die russischen Truppen zu provozieren“, sagte der Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB (Ex-KGB), Michailow. Inzwischen habe Präsident Boris Jelzin persönlich die Kontrolle über die Krise übernommen.

Stunden zuvor hatte sich die Hälfte der Spezialeinheiten, die den Grenzort umzingelten, zunächst in Richtung des Nachbarortes Sowjetskoje zurückgezogen. Am Samstag waren die anwesenden Berichterstatter gezwungen worden, sich einen weiteren Kilometer vom Geschehen zu entfernen. Die Nachrichtenagentur Interfax meldete, der Chef des Tschetschenenkommandos, Salman Radujew, habe ein russisches Ultimatum über Funk zurückgewiesen. Rußland hatte die etwa 150 Rebellen aufgefordert, ihre Geiseln bis Sonntag vormittag freizulassen und die Waffen abzugeben, die Frist aber später verlängert. Den Rebellen wurde ein weiteres Ultimatum gestellt. Ihnen werde „eine Nacht zum Überlegen“ gegeben, hieß es dazu im Innenministerium.

Mit welchen Sanktionen die Aufständischen ab heute morgen rechnen müssen, sagte der Vertreter des Innenministeriums nicht. Im Morgengrauen waren die russischen Spezialeinheiten mit Panzerunterstützung schon einmal näher an die Geiselnehmer herangerückt. Später hieß es, die russischen Truppen seien auf die Forderung des Kommandos der tschetschenischen Rebellen eingegangen, sich um eineinhalb bis zwei Kilometer zurückzuziehen. Der russische Innenminister Anatoli Kulikow und FSB-Chef Michail Barsukow reisten gestern ins Krisengebiet, um die Entscheidung über das weitere Vorgehen zu treffen.

Am sechsten Tag des Geiseldramas befanden sich nach dagestanischen Angaben noch 173 Menschen in der Hand der Rebellen. In der nächstgelegenen Kreisstadt Chasawjurt und anderen dagestanischen Dörfern demonstrierten am Sonntag mehrere tausend Menschen gegen ein gewaltsames Eingreifen der russischen Truppen. Auch auf tschetschenischer Seite erklärten sich Menschen bereit, einen „menschlichen Korridor“ zu bilden, um den Rebellen einen ungehinderten Abzug zu sichern. Rebellenführer Radujew stehe in ständigem Funkkontakt mit dem tschetschenischen Präsidenten Dudajew, hieß es.

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