: Keine Chance für „aufgeplatzte Weißwurst“
■ Die architektonische Avantgarde darf in Nürnberg nicht bauen – so will es ein Volksentscheid. Aber nur jeder dritte Bürger beteiligte sich an der Abstimmung
Nürnberg (taz) – Nach sechsjährigem zähem Kleinkrieg hat der erste Bürgerentscheid in einer bayerischen Großstadt in Nürnberg den Bau eines riesigen Palastes aus Glas und Stahl verhindert. Ist die Nürnberger Altstadt zwar gerettet, aber hat die rot-grün regierte Stadt damit ihre ganze Zukunft verspielt? Eine Koalition aus CSU, Bündnis 90/Die Grünen, „Republikanern“ und Altstadtfreunden darf sich über den klaren Sieg mit 68,7 Prozent der Stimmen freuen. Die Verlierer, ein Bündnis aus SPD, FDP, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, hingegen bejammern die niedrige Wahlbeteiligung von lediglich 27 Prozent der 364.000 Stimmberechtigten.
Seit dem Herbst 1989 ist das Filetstück der Nürnberger Altstadt, der Augustinerhof, gleich neben dem Hauptmarkt, in den Schlagzeilen. Nach dem Wegzug einer Druckerei stand das Ensemble lange leer und rottete vor sich hin. Dann kaufte der Kaufmann Muhammad Abousaidy das Areal. Der in New York lebende und in Nürnberg geborene Stararchitekt Helmut Jahn präsentierte im Januar 1991 der Öffentlichkeit seinen kühnen Entwurf: Eine offene, 100 Meter lange und knapp 25 Meter hohe Ladenpassage inklusive Hotels und Büros sollte mitten in der von Erkern, Giebeldächern und Fachwerkhäusern geprägten Altstadt entstehen.
Nürnbergs Baureferent Walter Anderle (SPD) war begeistert von diesem Stück „selbstbewußter Architektur“. Nürnberg brauche eben „keine Neuauflage der Gotik zum 25. Mal“, sondern ein Bauwerk, in dem „eine von Mut, Aufbruchstimmung und Toleranz geprägte Baugesinnung“ zum Ausdruck komme.
Die Nürnberger Altstadtfreunde zeigten wenig Bereitschaft zur Toleranz. Ihr Vorsitzender, Erich Mulzer, empörte sich über die „aufgeplatzte Weißwurst“, die die historisch gewachsene Struktur der Altstadt zerstöre. Doch noch im November 1991 signalisierten alle Stadtratsfraktionen Zustimmung zu dem Neubau.
Der wachsende Widerstand in der Bevölkerung und an der Basis aller Parteien gegen das gigantische Bauwerk ließ die ursprüngliche Stadtratsmehrheit für das Jahn-Projekt dahinschmelzen. Auch mehrfache Korrekturen des Stararchitekten an seinen Plänen konnten daran nichts mehr ändern. SPD-Oberbürgermeister Peter Schönlein fand schließlich den vierten Entwurf „akzeptabel“. Doch eine eindeutige Mehrheit im Stadtrat war nicht mehr zu finden, nachdem CSU, Grüne, Reps und Freie Wähler das Projekt strikt abgelehnt hatten. Schließlich entschied man, das Votum der Bürger einzuholen.
Der kommunale Bürgerentscheid war im Freistaat Bayern am 1. Oktober 1995 per Volksentscheid gegen den erbitterten Widerstand der CSU eingeführt worden. Während die Gegner des Jahn-Projektes frühzeitig mobilisierten, kam die „Initiative Nürnberg Voran“ samt regierender SPD sehr spät aus den Startlöchern. Die schwerverständliche Fragestellung – wer für das Jahn- Bauwerk war, mußte mit Nein stimmen –, tat ein übriges. Die Stadt Nürnberg muß jetzt nicht nur auf eine Investition von 200 Millionen Mark verzichten. Die SPD erlitt kurz vor den Kommunalwahlen im März auch eine empfindliche Niederlage. Bernd Siegler
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