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Sperrgebiet für Trauer

Mahnwache und Sternchen-Defilee. Susan Sontag, Oskar Lafontaine, Robert Wilson – bei der Beerdigung Heiner Müllers werden Gedichte gemurmelt und VIPs observiert  ■ Von Thorsten Schmitz

Wenn ich tot bin, ist für mich die Menschheit am Ende.

Die Frau mit dem beigen Pelzhut und dem hellbraunen Pelzmantel hat noch nie ein Stück von Heiner Müller gesehen. Sie geht lieber ins Kino, Filme mit viel Liebe und viel Romantik, das ist ihre Leidenschaft. Heiner Müller? Dazu fällt ihr wenig ein, nur das: „Er war ein Stück DDR, und jetzt ist er auch noch weg.“

Am Vorabend der Beerdigung steht sie am ausgehobenen Grab im Dorotheenstädtischen Friedhof nahe der Friedrichstraße, wo zwölf Stunden später 2.000 Menschen Abschied nehmen werden.

Sie murmelt ein Gedicht von Bertolt Brecht vor sich hin, „Radwechsel“; es beschreibt die Erfahrung des Exils. Jahrzehnte ist es her, daß sie das Gedicht auswendig lernen mußte in der Schule, behalten hat sie es bis heute. Den weiten Weg von Marzahn bis Berlin-Mitte scheute sie nicht, denn: „Es war mir ein Bedürfnis, hierher zu kommen.“ So plötzlich, wie die 58 Jahre alte Frau auftaucht, so schnell verschwindet sie auch wieder. Sie muß Abendessen kochen für ihren Mann.

Die Beerdigung am nächsten Vormittag wird sie sich im Fernsehen anschauen, der SFB sendet live aus dem Berliner Ensemble. „Ich würde ja doch nur weinen“, sagt sie und steigt in die Straßenbahn.

Am anderen Tag ist der Platz vorm Berliner Ensemble schon eine Stunde vor der offiziellen Veranstaltung zum Sperrgebiet für Trauer mutiert. Dutzende Fernsehteams, dreimal so viele Fotografen und die Ressortleiter überregionaler Feuilletons harren klöhnend in der Kälte und delektieren sich am Defilee der Prominenz – wie Filmsternchen an Cannes' Croisette werden die VIPs observiert.

Richard von Weizsäcker, Eberhard Diepgen, Oskar Lafontaine, mit dem Charterjet am frühen Morgen aus Bonn angeflogen, Robert Wilson, Susan Sontag – sie alle werden wie Premierengäste willkommen geheißen. Und in keinem Moment war der tote Heiner Müller wo weit weg wie in diesem.

Als Heiner Müllers Frau Brigitte erscheint, stiehlt ihr die zu Fuß kommende PDS die Schau, Blitzlichtgewitter über Gysi, Bisky und Modrow. Keiner nimmt Notiz von ihr. Als bestünde die Gefahr, zu vergessen, warum man gekommen ist, steht auf der Einladungskarte zur Trauerfeier: Heiner Müller ist gestorben.

Das Schweigen kommt sowieso, wenn man stirbt. Darauf kann sich jeder verlassen.

500 handverlesene Gäste, die weder Kosten noch Mühen gescheut haben für den Vormittag im BE, hören Alexander Kluge, Stefan Hermlin und Robert Wilson zu, was denen zu Heiner Müller einfällt. Kluge sieht Heiner Müller „jeden Moment um die Ecke biegen, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht“, Hermlin beklagt, daß „man Heiner Müller alleingelassen hat“, Wilson behauptet via Gertrude Stein: „He was being living every day.“

Im Theaterraum konkurrieren Chanel No. 5 und Calvin Klein Number One – und manche mit dem Schlaf. Auf dem Podium wird bunte Wortwolle gestrickt, das Parkett verfällt in eine kollektive Lähmung, einige Gäste nicken ein.

Das wahre Leben findet unterdessen in der Theaterkantine statt. Freibier gibt es da, ein Geschenk des Hauses, das die Bühnentechniker und die anderen Angestellten gerne annehmen. Die Techniker an ihrem Stammtisch tragen fast alle ihr einziges schwarzes Hemd – und machen sich über das pompöse Auftreten der im Ritual geübten Prominenz lustig. In ihnen steckt tiefe Verbitterung darüber, daß erst der Intendant sterben muß, bis „man uns mal wahrnimmt“, sagt einer, der um seinen Job fürchtet und daher seinen Namen nicht gedruckt sehen möchte. „Wenn die mal immer schön in unser Theater kommen würden, ginge es uns nicht so schlecht.“

Die Techniker mochten Heiner Müllers Volksverbundenheit: „Der war sich nicht zu schade, seinen Whisky mit uns zu trinken.“ Am schlimmsten finden sie die Ungewißheit, die jeden im BE erfaßt hat. Ein Gerücht kursiert, daß der im letzten Jahr zum besten Schauspieler gekrönte Martin Wuttke Intendanz-Avancen habe. Von „so einem“, da sind sich die Techniker einig, wollen sie sich nichts vorschreiben lassen. „Wieder so einer aus dem Westen.“

Alle geglückten Beerdigungen müssen mißlingen.

Nach anderthalb Stunden Bühnentrauer dürfen endlich auch mal die Nichtgeladenen ins Foyer des BE. Sie gucken, wie Wolfgang Thierse mit Volker Schlöndorff flüstert, sie lauschen, wie Oskar Lafontaine mit Günter Gaus über Moskau plaudert, sie verfolgen Bernhard Minetti und Günther Rühle auf dem Weg zum Taxi, sie bitten Marianne Hoppe um ein Autogramm und Günter Grass auch. Und für manche ist es wie ein Traum, als Richard von Weizsäcker Lothar Bisky mit Handschlag begrüßt und fragt: „Wie geht es Ihnen?“ Für Bisky übrigens ist es auch wie im Traum, er strahlt Gysi an, als wollte er sagen: Wir haben es geschafft.

In unerwartet unorganisierter Form pilgern die Trauergemeinde und ihre Anhängerschar zum Friedhof, spätestens hier greift das Protokoll wieder. Wer keine Einladung hat, darf nicht zugucken, wie der Sarg Heiner Müllers in die Erde hinabgelassen wird, darf nicht zuhören, wie Ulrich Mühe als Grabrede Gottfried Benns „Berlin“ rezitiert, darf nicht dabeisein, wie die deutsche Prominenz ihre Trauer zu Grabe trägt.

Als letzter VIP rauscht Ministerpräsident Stolpe im Dienst- Mercedes davon, dann, endlich, steht das vorwiegend ostdeutsche Volk vorm Grab Schlange. Die Fotografen und die Fernsehteams stolpern über Gräber, steigen auf Grabsteine, um nur ja die beste Einstellung zu finden. Anfangs noch zischen die Friedhofswärter, die am Grab stehen und Sand nachschütten, um „ein bißchen mehr Respekt“.

Irgendwann verstummen auch sie: Die Kälte hat sie zu Eisblöcken erstarren lassen. „Man kann sich gar nicht vorstellen“, scherzt einer mit blaugefrorener Nase später beim Kaffee im Aufenthaltsraum, „wie wir für Heiner Müller gelitten haben.“ Die Männer, von Berufs wegen zum Schweigen verdammt, haben einen Trick bei Minusgraden und bei 2.000 Menschen, die ihre Blumen nacheinander ins tannenzweiggeschmückte Grab werfen: „Ich habe die ganze Zeit an meinen letzten Urlaub gedacht, an den Strand und so.“

Ich wußte nie, warum ich mich umbringen sollte. Überleben ist auch eine Lösung.

Am späten Nachmittag wird das Loch, in dem Heiner Müller unter Hunderten von Blumen und drei Zigarren begraben liegt, von den Friedhofswärtern zugeschüttet. Wie im Zeitlupentempo. Zwanzig Menschen schauen ihnen dabei zu, es ist unüberhörbar still. Eine Straßenbahn ist zu hören, wie sie in den Gleisen quietscht, ein Krankenwagen mit Blaulicht, und zum ersten Mal an diesem Tag entsteht das Gefühl, daß Heiner Müller nun wirklich nicht mehr da ist.

Am Friedhofseingang steht die Frau, die am Nachmittag zuvor schon Abschied genommen hatte. Sie hatte wieder „das Bedürfnis“, noch mal vorbeizuschauen. Der Friedhof wird aber gerade geschlossen, und so will sie wissen, „wie es gewesen war“.

Kursiv: aus verschiedenen Texten Heiner Müllers

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