Das Schweigen der Unschuldslämmer

■ Beweise unterschlagen: Mindestens vier Polizisten auf der Haider-Demo kannten Oliver Neß

Heute wird er als Zeuge vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuß (PUA) Polizei vernommen – der Fernsehjournalist Oliver Neß, der im Mai 1994 auf dem Gänsemarkt von Polizisten schwer mißhandelt wurde. Für den Vorsitzenden des PUA, Ulrich Karpen (CDU), steht schon jetzt fest: Den Mann habe man zwar etwas zu hart angefaßt – Neß wurde der gesamte Bandapparat seines Fußgelenkes zerstört –, doch all das sei ein bedauerliches Mißverständnis gewesen. Von einem Racheakt an dem kritischen Polizeireporter könne nicht die Rede sein.

„In jedem normalen Gerichtsverfahren würde ein Richter, der sich mitten im Prozeß derartig öffentlich äußert, mit Sicherheit wegen Befangenheit vom Prozeß ausgeschlossen“, schrieb gestern der GAL-Fraktionsvorsitzende Willfried Maier an seinen CDU-Amtskollegen Ole von Beust. „Wir bitten Sie dringlich, ihn als Vorsitzenden abzulösen.“

Doch Karpen ist nicht der einzige, der schon vor der Vernehmung von Oliver Neß das Ergebnis vorgibt. Der PUA-Arbeitsstab, der die Akten einsieht und für die Abgeordneten aufbereitet, unterschlägt nach Informationen der taz maßgebliche Beweise. Denn die Schlüsselfrage im Fall Oliver Neß lautet: Haben die Polizisten den kritischen Berichterstatter gekannt? Ist es denkbar, daß man sich an Neß rächen oder ihm zumindest eine Lektion erteilen wollte? Im vertraulichen Bericht des PUA-Arbeitsstabes vom 13.Oktober 1994, der der taz bekannt ist, heißt es: „Sämtliche im Zusammenhang mit der Haider-Kundgebung vernommenen Polizeibeamte und auch befragte Journalisten“ sagten aus, „Oliver Neß erst nach der Kundgebung durch die Medienberichterstattung kennengelernt zu haben.“ Doch mindestens vier Polizisten haben anders ausgesagt.

Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft, Blatt 663, Aussage vom 10.11.94, Wolfgang Lotze, Landeskriminalamt (LKA) 331: „Oliver Neß ist mir persönlich aus meiner langjährigen Tätigkeit beim Staatsschutz gut bekannt.“ Blatt 671, Aussage vom 10.11.94, Stephan Maier, Staatsschutz, LKA 331: „Oliver Neß ist mir namentlich und persönlich durch viele Einsätze des LKA 3 bekannt. An jenem Tag habe ich den Oliver Neß gesehen, als er sich hinter der Rednertribüne aufhielt.“ Gesehen sogar. Ein Vermerk der diensthabenden Ermittlungsstelle der Polizei vom 26.10.94 hält fest, daß der ebenfalls anwesende Leitende Polizeidirektor Richard Peters erklärte, „daß ihm der Neß bereits aus der Vorzeit bekannt gewesen sei“. Der Chef des Einsatzzuges Mitte, Dieter Dommel, behauptet zwar am 9. Juni 1994: „Mir war Herr Neß als Person vor den gesendeten Presseveröffentlichungen nicht bekannt.“ Ein halbes Jahr später, am 2. Dezember 1994, fällt ihm ein: „Wenn mich damals jemand gefragt hätte, wer Oliver Neß sei“, so hätte er geantwortet, „es handele sich bei dieser Person um einen Journalisten“. ( Blatt 776 der Ermittlungsakte) Er schließt auch nicht mehr aus, daß er ihn bei Einsätzen getroffen haben könnte.

Besonders delikat: Zwei der Beamten, die aussagen, Neß zu kennen, gehören zum Staatsschutz, Abteilung LKA 331. Sie dürften den Journalisten wegen einer peinlichen Schlappe im „Plattenlegerprozeß“ noch gut in Erinnerung haben. Im NDR präsentierte Neß eine Geheimakte aus der Top-Secret-Etage des Polizeihochhauses, die ihm zugespielt worden war. Diese Akte belegte 1992, daß die Linksautonomen Knut Andresen und Ralf Gauger vom Staatsschutz verwechselt wurden und zu Unrecht observiert und inhaftiert wurden.

Mindestens vier Beamte, die auf dem Gänsemarkt allesamt Funkgeräte bei sich trugen, kannten Neß. „Und ich kenne sie bis heute nicht“, so Neß. Wurde er vom Staatsschutz observiert?

Der Angriff auf dem Gänsemarkt begann damit, daß ein Nicht-Uniformierter ihm mit der Faust ins Gesicht schlug. Ein Bekannter von Neß, der Student Oliver Scholz, stand direkt neben ihm. „Eine blonde, sportlich wirkende Person – ich meine, sie trug eine Jeansjacke – war dann plötzlich bei uns und schlug Herrn Neß.“ Bis heute wurden dem Zeugen noch keine Fotos zur Identifizierung vorgelegt. Nach Aussage von Neß soll es der Zivilbeamte Andreas Vatterott gewesen sein. Doch Oberstaatsanwalt Martin Slotty erhob keine Anklage gegen den mutmaßlichen Initiator der polizeilichen Gewalttätigkeiten gegen den Journalisten. Trotz Zeugen bestreitet die Staatsanwaltschaft, daß es überhaupt eine erste Prügelszene gab.

Gegen zwei beteiligte Polizisten wurde keine Anklage erhoben – darunter Vatterott –, gegen einen die Anklage vom Gericht abgelehnt. Am Ende stehen nun nur noch der „Fußtäter“ Oliver H. und der Nebentäter Olaf A. vor Gericht. Und Oliver H. konnte laut Anklage nicht „mit einer schwerwiegenden Gesundheitsbeschädigung“ rechnen, als er Neß Bänder und Kapsel des Fußgelenkes zerstörte. Dazu waren nach Einschätzung von Chirurgen 200 Kilogramm Muskelkraft nötig. Der Täter habe sich, so Oberstaatsanwalt Slotty, nur „vermeidbar geirrt“. Vermutlich wird auch Oliver H. zu weniger als einem Jahr verurteilt, damit er im Polizeidienst bleiben kann.

Silke Mertins/Kaveh Nassirin