Jelzin in den Fängen der Falken

Das Sterben in Dagestan geht weiter, doch Rußlands Präsident redet vom erfolgreichen Endschlag. Er hat den Kontakt zur Realität verloren. Dafür sorgt die Kremlgarde  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Rhythmisch wie ein domestizierter Tanzbär hüpfte Boris Jelzin vor der Kamera auf und ab. Ein wenig linkisch zwar, doch schließlich sollten sich die Zuschauer ein realistisches Bild von den Vorgängen im Kaukasus machen können. Seine Bewegungen simulierten Scharfschützen, die die Geiselnehmer ständig im Visier haben. Nicht einer von ihnen werde entkommen. Wenige Stunden zuvor waren Spezialeinheiten des russischen Sicherheitsdienstes in der Nähe des Dorfes Perwomaiskaja, wo sich tschetschenische Geiselnehmer mit ihren Opfern verschanzt halten, in Stellung gegangen.

Jelzins komödiantischer Auftritt sollte suggerieren, diesmal ginge wirklich alles glatt. Der Präsident hatte allen Grund zur Zuversicht: Die Operation sei minutiös vorbereitet, die Spezialeinheiten befänden sich in exzellenter Verfassung, während die Piloten bereits filigrane Arbeit leisteten. Nur eindeutig lokalisierte Feindesnester würden zerstört. All das hatte ihm Michail Barsukow, Chef des Föderalen Sicherheitskomitees (Ex-KGB) zuvor telefonisch versichert. Was sollte den Präsidenten noch hindern, für den Abend ein erfolgreiches Ende der Geiselbefreiung vorauszusagen? Schließlich genießt Barsukow, der ehemalige Kommandant der Kremlgarde, beim Präsidenten ungetrübtes Vertrauen.

Doch die Realität in Dagestan sieht anders aus: Nach zwei Tagen können die Spezialkommandos erst die Befreiung von 29 Geiseln vermelden. Eine wurde schwer verletzt, weil die Befreier auf alles schießen, was sich bewegt. Über achtzig Geiseln befinden sich noch in den Händen der Terrorgruppe „Einsamer Wolf“. Überlebten sie das flächendeckende Bombardement, würde das an ein Wunder grenzen.

Die Realität hatte Boris Jelzin abends eingeholt und ihn erneut vor den Augen der Nation bloßgestellt. Erfaßt der Präsident noch, was um ihn herum geschieht? Hatten ihm die kolossalen Verluste der Armee während des monatelangen Sturms auf Grosny nicht gezeigt, wie schlecht es um seine Streitmacht bestellt ist? Mußten die ständigen Erfolgsmeldungen damals, die sich als Wunschvorstellungen frustrierter Militärs herausstellten, den Präsidenten nicht mehr als stutzig machen? Als sich im Laufe des Tages abzeichnete, daß der Kreml den Mund zu voll genommen hatte, sprang die Propagandamaschine der staatlichen Medien in die Bresche und bot den Militärs Flankenschutz. Die Medien waren auch in den Vortagen nicht ganz untätig geblieben. Falschmeldungen, die Geiselnehmer hätten eine dagestanische Verhandlungsdelegation aus Vertretern des „Ältestenrates“ erschossen, sollten die Bevölkerung psychologisch einstimmen und die großflächige Vernichtungsaktion rechtfertigen. Demnach belegten aufgefangene Funksprüche des Gegners, auch Aslan Maschadow, Dudajews Oberkommandierender, habe zum erbitterten Widerstand aufgerufen. Maschadow, der mit seinem Dienstherren in Fehde liegt, hatte die Geiselnahme vorher öffentlich verurteilt.

Die Abwicklung der Operation „Perwomaiskaja“ läßt tieferliegende Intentionen des Kremls zumindest erahnen. In Verhandlungen mit den Terroristen gab Moskau nicht einen Fingerbreit nach, um das Leben der Geiseln zu schonen. Die russische Armee ist zu chirurgischen Eingriffen nicht in der Lage. In diesem Fall war dergleichen auch nicht beabsichtigt. Statt dessen sollte eine Strafexpedition exerziert werden, die das innenpolitische Klima insgesamt verschärft. Wahrscheinlich haben die „Sicherheitsexperten“ dem Präsidenten tatsächlich keinen zutreffenden Lagebericht geliefert, womöglich gar die Erfolgsaussichten in schillerndsten Farben geschildert. Freiwillig wird sich Jelzin kaum zum Hampelmann machen. Doch das entbindet ihn nicht von der Verantwortung, sondern belegt ein höchst beunruhigendes Moment. Wie die meisten seiner Vorgänger im Kreml hat der Präsident den Kontakt zur Realität verloren. Er leidet an einer Art Kremlsyndrom, das die „eigenen vier Wände“ mit der Realität verwechselt. Sorge dafür tragen die engsten Vertrauten, die ihn von störenden Außeneinwirkungen abschirmen und mit künstlichen Szenarien füttern. Seit langem ist es ein offenes Geheimnis, daß sich der Präsident am wohlsten in der Gegenwart seines Leibwächters Alexander Korschakow fühlt, dem man keine reformatorischen Neigungen andichten kann. Er war es, der seinem Dienstherren Barsukow als Chef des FSK empfahl. Noch am Montag berief der Präsident dann Nikolai Jegorow zum Leiter seines Präsidialapparates. Jegorow hatte sich als Nationalitätenminister einen unrühmlichen Namen gemacht. Von Anfang an plädierte er für eine gewaltsame Lösung des Tschetschenienkonfliktes in eklatanter Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse. Doch Fähigkeit und Sachkompetenz sind für den engsten Machtzirkel im Kreml schon seit längerem keine Auswahlkriterien mehr. Mit dem rücksichtslosen Vorgehen in dem kleinen dagestanischen Grenzort treten sowjetische Verhaltensmuster, die in den letzten Jahren gelegentlich noch durchschimmerten, nun wieder deutlich hervor. Vor allem schämt man sich ihrer nicht mehr. Die düsteren Figuren, die Jelzin um sich sammelt, verkörpern alle den gleichen Typus: Sie sind der fleischgewordene sowjetische Minderwertigkeitskomplex, der sich seines zivilisatorischen Rückstands nur durch Gewalt glaubt entledigen zu können. Auch der neue Außenminister Jewgenij Primakow vereint Züge dieses alten Schlages auf sich. Ihre Schule war zumeist der KGB.

Mit jedem Mißerfolg gerät Jelzin weiter in ihre Fänge, darauf scheinen sie zu spekulieren. Seine jüngsten Entscheidungen zeigen, daß er nur noch Regieanweisungen der Falken folgt. Vor wenigen Wochen hätte Jelzin noch Aussichten gehabt, ein zweites Mal zum Präsidenten gekürt zu werden. Jeder Schuß in Tschetschenien richtet sich nun gegen ihn, nur begreift Jelzin das nicht. Im Gegenteil, der Präsident setzt auf ein Wunder: Indem er die alte Mannschaft auswechselt und altgediente kommunistische Apparatschiks beruft, hofft er, den Kommunisten Wählerstimmen streitig zu machen. Doch weder die Kommunisten noch ihre Klientel werden sich davon beeindrucken lassen. Den einen geht es um die bloße Macht, den anderen um ein besseres Leben.

Deshalb hat Jelzins vorauseilender Gehorsam wenig Sinn. Würde am Wirtschaftskurs kurz vor den Wahlen herumgedoktert, risse das noch größere Löcher in die Taschen der Verbraucher. Jelzins Umgebung beraubt den Präsidenten aber nicht seiner Illusion. Soll er nur an einen machbaren und legalen Erfolg glauben!

Unterdessen manövrieren sie den Kremlherrn in eine ausweglose Situation und schaffen Szenarien wie Perwomaiskaja: Eine Eskalation von Gewalt, der die Ausrufung des Notstands folgen könnte. Dies gäbe dem russischen Staatsoberhaupt verfassungsrechtlich die Möglichkeit, die Wahlen auszusetzen.

Die jetzige Lage ähnelt auf fatale Weise der Situation vom Januar 1991. Damals schlugen Truppen des sowjetischen Innenministeriums Unabhängigkeitsdemonstrationen im Baltikum blutig nieder. Präsident Gorbatschow wollte von allem nichts so recht gewußt haben. Das radikaldemokratische Lager unter Boris Jelzin übte am Präsidenten heftige Kritik. Ihre Wege trennten sich, während Gorbatschow Gestalten wie Walentin Pawlow, Wladimir Krjutschkow und Gennadij Janajew ins Kabinett holte. Ein halbes Jahr später putschten sie gegen ihren Herrn. Auch dem waren Provokationen vorausgegangen, man hatte Gorbatschow systematisch mit Falschmeldungen versorgt und ihn von Außeneinflüssen abgeschirmt. Als der Präsident aus der Verbannung zurückkehrte, war er am Ende. Doch in Rußland gab es noch einen Boris Jelzin. Wer aber rettet den Tanzbären?