: Mehr Wert als Schöpfung
■ Das Staatliche Museum Schwerin wird zum Sammlungs- und Forschungszentrum für Marcel Duchamp - eine Retrospektive
Die Museumspädagogin trägt vorsichtig ein Bild herbei, plaziert es auf einer Staffelei und bespricht es ausgiebig mit einer Schulklasse. Der Flügel steht im Raum, als wäre hier ein großbürgerlicher Salon, nun für das breite Publikum geöffnet. Das Staatliche Museum Schwerin am Alten Garten 3, gleich gegenüber dem Wasserschloß der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern, gibt sich seltsam luxuriös. Gestreut zwischen die eher mittelformatige Sammlung finden sich schon einige Arbeiten Marcel Duchamps, etwa Mona Lisa mit aufgekritzeltem Bärtchen, und auch ein Schachbrett wartet spielbereit.
Das Museum scheint sich selbst auszustellen; einzig das modernistische Shopdesign für die Kataloge und den Kaffee stößt ins Postindustrielle der Dienstleistunsgesellschaft vor: Kurzzeitig vollzieht sich hier der Sprung vom Salonwagen dampfbetriebener Züge hin zur Einkaufszone oder, stilgemäßer, einer Nachttankstelle. Der Nordflügel für Wechselaustellungen mit seinen gußeisernen Säulen, rosettenversetzten Stützen, zurückhaltenden Wandverzierungen und dem streng gerasterten Milchglasdach entspricht der Zeit, als Duchamp begann, die Kunstproduktion neu zu definieren. Der 1905 errichtete Ausstellungsraum erinnert in verklärender Form an die Konstruktion von Industriehallen, doch auf dem Parkettboden ist Massenproduktion nur schwer vorstellbar.
Duchamps Distanz zum Schöpferkult korrespondiert mit seiner Ausbildung als Drucker und Gebrauchsgrafiker. Auch später noch erstellte er Plakate für Schachturniere, Faltblätter als Einladungsflyer für eigene Ausstellungen oder das Cover seines Magazins VieW. Duchamp verkaufte wenig, arbeitete häufig nur im Fall von Aufträgen und verdingte sich als Betreuer von Privatsammlungen: „Ich brauchte nicht zu verkaufen, um leben zu können.“ Er, der selbst keine Kunstakademie besucht hatte, sprach zu den StudentInnen des Philadelphia Museum College of Art vom Künstler als Dienstleister. „Durch ihre enge Verknüpfung mit dem Gesetz von Angebot und Nachfrage sind die visuellen Künste eine ,commodity‘ geworden: das Kunstwerk ist jetzt ein gangbares Produkt wie die Seife und die ,securities‘.“
Der Gebrauchs- sollte den Tauschwert der Künste ablösen, weshalb Duchamp kaum modifizierte Gebrauchsgegenstände in Ausstellungen zeigte oder seine stark verkleinerte Kollektion nebst dazugehörigen Skizzen (als Foto- kopien) zusammenpacken ließ: Minimuseen wie im Musterkoffer von Handlungsreisenden. Die Ausstellungskuratorin Kornelia von Berswordt-Wallrabe hebt hier den „konsumptiven Akt der Auswahl aus Vorhandenem“ hervor. An Stelle handwerklich gefertigter Kunst (Malerei war für Duchamp „Ölkult“) trat der Kauf von Industrieerzeugnissen wie Fahrräder, Pißbecken, Kleiderhaken oder Flaschentrockner, die er als Readymades kennzeichnet. So ist die Schweriner Ausstellung auch „keine Werkschau des Künstlers“, sondern geht der „Frage nach der dem Werk zugrunde liegenden Struktur, der geistigen Haltung und der von ihm entwickelten Methode nach, den Gebrauchsfluß der Dinge zu unterbrechen“.
Die sechs Jahre vor seinem Tod in Philadelphia gehaltene Rede „Where do we go from here?“ verfaßte der 1887 in der Normandie geborene Duchamp zuerst auf französisch, obgleich er sich zu diesem Zeitpunkt schon fast 50 Jahre in den USA aufhielt und die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Überhaupt erscheint Duchamp in Schwerin sehr europäisch, obgleich er erst durch John Cage und Robert Rauschenberg als Ahne einer nichtintentionalen Kunst neu entdeckt wurde und auf die internationale Kunstproduktion der letzten 30 Jahre Einfluß erlangte. Und so finden sich neben einer erstaunlichen Fülle von Arbeiten – so unproduktiv war Duchamp also doch nicht – auch Cages aleatorisch mit Buchstaben bedruckte Plexiglasscheiben, zudem verwandte Werke von Raoul Hausmann, Francis Picabia oder ein Mobile aus hölzernen Kleiderbügeln von Man Ray, das wie Duchamps Flaschentrockner von der Decke hängt.
Den Grundstock der Ausstellung bildet die Antwerpener Galerie-Kollektion Ronny Van der Veldes, durch deren kürzlich erfolgten Ankauf das Schweriner Museum zum „Zentrum der Duchamp-Forschung in Deutschland“ aufsteigen will. Die erste Duchamp-Ausstellung in der Bundesrepublik liegt dabei gerade einmal 30 Jahre zurück. Zwar fehlen die frühen Gemälde, doch findet sich hier neben zahlreichen Skizzen und Softpornozeichnungen selbst ein Scheck über 450 Franc für den Zahnarztbesuch, den Duchamp 1919 vergrößert nachmalte, damit die Rechnung beglich und dem Doktor auch noch signierte. Die „Augenzeugen“ (1920/50) benannten industriellen Zeichnungen mit geometrischen Effekten wie bei Technoflyern oder der „Faltbare Reiseartikel“ (1916/64) – die werbebedruckte Abdeckhaube einer Underwood-Schreibmaschine – existieren ebenso wie Flaschentrockner, Kleiderhaken oder das auf einen Schemel gebastelte Fahrrad schon lange nicht mehr als Original. Sie stehen nur lediglich als Remakes, Remixes oder in Schachteln und Koffer verpackte Instant-Sampler zur Verfügung. Duchamp hat, soweit er die Objekte nicht käuflich erwarb, ihre Herstellung bei Schildermalern, Druckern oder kleinindustriellen Betrieben in Auftrag gegeben.
Seine Arbeiten sind gesucht – so wie manche Plattenpressungen auch, für die trotz industrieller Fertigung inzwischen Liebhaberpreise gezahlt werden. Mitnichten produzierte er jedoch Massenkultur, sondern stellte vermehrt Auflagenobjekte her oder Immobilien wie das im Philadelphia Museum fest installierte „Große Glas“. Wie die Ausstellungsräume, deren Architektur mit einer Industrieaura spielen, ohne diese einzulösen, war Duchamp letztendlich ein Anhänger der Manufakturen und des Handwerks. In Nachbarschaft der Ausstellungsräume von „Marchel Duchamp – Respirateur“ findet sich die nach Dresden größte Sammlung Meißner Porzellans: Die Mehrwertproduktion der sächsischen Manufaktur gründet im Know-how und wird noch immer mit hohen Lohnkosten erkauft. So liegen im Schweriner Museum bis in die Architektur hinein Entwicklungslinien postindustrieller Wertschöpfung seit Beginn des Jahrhunderts aus, als deren widersprüchlicher Zeuge Duchamp durchaus passend eingefügt wurde. Jochen Becker
Marcel Duchamp – Respirateur, bis zum 31. 1. (im Kernbestand), Staatliches Museum Schwerin.
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