Die Spur führt in die Kasernen

In Argentinien hat der Antisemitismus eine lange Geschichte. Jetzt stehen Militärs im Verdacht, in die Attentate gegen jüdische Einrichtungen von 1992 und 1994 verwickelt zu sein. Bei den Anschlägen kamen insgesamt 115 Menschen ums Leben  ■ Von Miriam Lang

Nach drei bis vier Stunden kamen sie wieder und holten nur mich aus der Gemeinschaftszelle. Sie zogen mich aus und sagten: ,Du wirst jetzt mal den anderen zeigen, wie man sich benimmt, du durchtriebener Jude.‘ Sie schlugen mir brutal auf Mund, Augen und Genitalien. Sheffer sagte mir, ich würde besonders gequält, weil ich Jude sei. (...) Ein andermal mußte ich nackt turnen. Sie lachten mich aus und riefen: ,Du bist ein jüdischer Hurensohn.‘ Später folterte Sheffer, der mit Spitznamen ,der Nazi‘ hieß, mich und sechs andere mit Elektroschocks.“

Dieses Zeugnis des jüdischen Überlebenden Eduardo Grutzky belegt, was bis heute auch in der argentinischen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist: daß während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 Frauen und Männer auch aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt, entführt und gefoltert wurden. Das Militärregime, dem 30.000 Menschen zum Opfer fielen, bot Antisemiten und Nazi-Epigonen einen günstigen Rahmen, ihre Vernichtungsphantasien auszuleben. Folteropfern wurden Judensterne und Hakenkreuze in die Haut geritzt, an den Zellenwänden standen Sprüche wie „Tu was für Dein Vaterland – töte einen Juden“.

Auch heute stehen argentinische Militärs wieder unter Verdacht, sich an einer antisemitischen Gewalttat beteiligt zu haben: Anfang Dezember wurden acht aktive und zwei ehemalige Unteroffiziere sowie vier zivile Armeeangestellte verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen, den Sprengstoff für das mörderische Attentat vom 18. Juli 1994 geliefert zu haben. Damals war eine Autobombe vor dem jüdischen Gemeindezentrum Amia in Buenos Aires explodiert und hatte in einem gigantischen Trümmerhaufen 86 Tote und über 300 Verletzte hinterlassen.

Die Asociación Mutual Israelita Argentina (Amia, jüdisch-argentinisches Sozialwerk) war 1940 als Wohlfahrts- und Kulturvereinigung gegründet worden. Das siebenstöckige Gebäude in der Calle Pasteur 600, das durch die Autobombe völlig zerstört wurde, beherbergte nicht nur die größte jüdische Bibliothek Lateinamerikas und die drittgrößte jiddischsprachige Büchersammlung der Welt, sondern auch unersetzliche Dokumente über die jüdische Einwanderung nach Argentinien sowie über deutsche Nazis, die sich am Rio de la Plata niedergelassen hatten.

Bei Razzien im Zusammenhang mit den jüngsten Verhaftungen der Unteroffiziere wurden große Mengen Waffen und Sprengstoff aus Armeebeständen gefunden, die die Militärs aus ihren Kasernen abgezweigt haben sollen. Mindestens zwei der Verhafteten haben auch in der Vergangenheit schon gerne mit dem Feuer gespielt: Sie waren aus dem Militärdienst entlassen worden, nachdem sie sich im Dezember 1990 am Putschversuch des rechtsextremen Mohamed Ali Seineldin beteiligt hatten.

Noch ein weiterer ehemaliger Putschist sollte festgenommen werden: Emilio Morello, 1987 an einem Militäraufstand unter Aldo Rico beteiligt und heute Parlamentsabgeordneter für Ricos rechtsradikale Modin-Partei. Morello genießt als Parlamentarier jedoch bisher Immunität.

Die Verhaftungen überraschen nicht nur vor dem Hintergrund, daß die Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Attentat auf Amia eineinhalb Jahre lang ergebnislos verlaufen waren. Auch der Anschlag auf die israelische Botschaft, bei dem im März 1992 ebenfalls durch eine Autobombe 29 Menschen getötet und 300 verletzt worden waren, gilt bis heute als unaufgeklärt. Vor allem aber hatte sich die argentinische Regierung in beiden Fällen sehr eindeutig dahingehend geäußert, daß die Täter im Ausland, im Nahen Osten, zu suchen seien. Die Anschläge wurden als „Sabotage im israelisch-palästinensischen Friedensprozeß“ bezeichnet oder als Rache für die argentinische Beteiligung am Golfkrieg. Damals hatte Präsident Carlos Menem die US-Streitkräfte mit der Entsendung eines Kriegsschiffes unterstützt.

Um die schockierte Öffentlichkeit zu beruhigen, wurden kurzfristig Fahndungserfolge präsentiert: 1992 wurden vier Pakistaner verhaftet, die jedoch bald aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden mußten. 1994, nach dem Anschlag auf das Amia-Gebäude, wurden Aussagen eines in Venezuela lebenden iranischen Dissidenten veröffentlicht. Daraufhin fahndeten die Behörden nach vier iranischen Botschaftsangestellten, was zu erheblichen diplomatischen Verstimmungen zwischen Argentinien und dem Iran führte. Auch in diesem Fall empfahl der Generalstaatsanwalt jedoch nach wenigen Wochen, die allzu dürftig begründeten Haftbefehle wieder zurückzuziehen.

Ruben Beraja, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Argentiniens, beklagte sich wiederholt in den Medien, mögliche lokale Verbindungen der Terroristen würden nicht ausreichend untersucht. Lediglich der israelische Geheimdienst Mossad, der im Juli 1994 für die Bergungsarbeiten eigens mit Spezialteams angereist war und seitdem eigene Ermittlungen durchführt, verdächtigte auch öffentlich argentinische Nazis der Tat.

Staatspräsident Carlos Menem seinerseits erklärte noch im vergangenen Oktober – offenbar als Rechtfertigung für die schleppenden Ermittlungen – seine „substantiellen Diskrepanzen mit der islamistischen Fundamentalistenorganisation Hisbollah, die von verschiedenen Geheimdiensten für die Attentate auch in unserem Land verantwortlich gemacht wird“.

Argentiniens gewählte Präsidenten pflegen mit den Militärs traditionell lieber ein harmonisches Verhältnis – denn die Geschichte des Landes seit seiner nationalstaatlichen Gründung 1816 lehrt sie, daß zivile Regierungen kaum ein Jahrzehnt überdauert haben, bevor sie immer wieder durch Militärdiktaturen gewaltsam abgelöst wurden. Auch seit dem letzten Übergang zur Demokratie 1983 haben Militärs bereits dreimal den Aufstand geprobt. 1987 und 1988 gegen Raúl Alfonsin, und 1990 gegen den heute noch amtierenden Carlos Menem.

So sind die argentinischen Militärs auch für die Verbrechen der Diktatur von 1976 bis 1983 nie wirklich zur Verantwortung gezogen worden. Zwar wurde den Junta-Generälen 1985 unter Raúl Alfonsin der Prozeß gemacht, doch Carlos Menem begnadigte sie bereits fünf Jahre später. Alfonsin selbst hatte 1987 schon alle niedrigeren militärischen Chargen von ihrer historischen Schuld entlastet, indem er dem Parlament ein Gesetz vorlegte, das dem militärischen Gehorsam Priorität vor der ethischen Verantwortung einräumt.

Die am Rio de la Plata lebenden Jüdinnen und Juden erlebten nach dem Ende der Diktatur noch eine ganz andere Kontinuität: die des militanten Antisemitismus. 1984 steckten Unbekannte in der Provinzhauptstadt Rosario und in Buenos Aires zwei Synagogen in Brand. 1987 ging auf dem jüdischen Friedhof in Córdoba eine Bombe hoch. Im November 1991 entschärfte die Polizei auf einem Friedhof bei Buenes Aires einen weiteren Sprengsatz. Auch persönliche Angriffe auf Juden sind in Argentinien immer wieder vorgekommen: Im August 1994 beispielsweise schlugen Neonazis auf offener Straße in Buenos Aires auf eine Gruppe jüdischer Schulkinder ein.

Argentinien beherbergt mit etwa 300.000 Mitgliedern die viertgrößte jüdische Gemeinde der Welt. Orthodox gekleidete Männer mit Hut und Schläfenlocken, koschere Geschäfte und Synagogen prägen bis heute das Straßenbild von Buenos Aires. Ende des letzten und Anfang dieses Jahrhunderts flohen Zehntausende Juden und Jüdinnen aus Osteuropa, wo sie aufgrund immer häufigerer Pogrome ihres Lebens nicht mehr sicher waren. Am Rio de la Plata erlaubte man ihnen Landbesitz, der ihnen in der alten Welt jahrhundertelang verwehrt geblieben war. Sie besiedelten als gauchos judios die Pampa, die nach dem Massaker an den Ureinwohnern menschenleer war, und gründeten jüdische Landgemeinden.

Später, als sich in Westeuropa nationalsozialistische und faschistische Regimes etablierten, kamen auch von dort viele Juden und Jüdinnen nach Argentinien. Die meisten waren ArbeiterInnen, die der im Aufbau befindlichen argentinischen Industrie sehr gelegen kamen. Viele gehörten der anarchistischen oder kommunistischen Bewegung an.

Doch auch in der neuen Heimat trafen die jüdischen ImmigrantInnen auf Antisemitismus, und zwar lange bevor Juan Domingo Perón in den späten vierziger Jahren die Einreisebedingungen verschärfte und so jüdischen Flüchtlingen die Einwanderung erschwerte, während sich deutsche Nazis ungehindert in Argentinien niederlassen konnten. Bereits 1919 drangen in Buenos Aires anläßlich der gewaltsamen Niederschlagung eines Generalstreiks paramilitärische Gruppen in das jüdische Stadtviertel Once ein. Unter dem Vorwand, Judentum und Kommunismus seien identisch, töteten sie mehrere hundert Menschen, zerstörten jüdisches Eigentum und verbrannten öffentlich Bücher. Jüdinnen und Juden wurden auf den Straßen wie Freiwild gejagt, die Zahl der Verletzten ging in die Tausende.

Als sich 1930 der Mussolini- Verehrer Uriburu an die Macht putschte, entstand in Argentinien eine eigenständige faschistische Bewegung, die sich in ihrem Antisemitismus an europäischen Vorbildern orientierte. Sie blieb allerdings auf die rechte, katholische Oligarchie beschränkt und äußerte sich in erster Linie publizistisch.

Fünfzehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, nachdem am 11. Mai 1960 der Naziverbrecher Adolf Eichmann vom israelischen Geheimdienst aus Buenos Aires entführt worden war, um in Israel wegen Massenmordes vor Gericht gestellt zu werden, durchlebten die argentinischen Juden eine neue Zeit der Angst. Eine neofaschistische Organisation namens Tacuara trieb den antisemitischen Terror in Buenos Aires und anderen Städten auf die Spitze: Schändungen jüdischer Friedhöfe, Schüsse und Brandbomben auf jüdische Einrichtungen, Schlägerkommandos auf den Straßen, aber auch gezielte Entführung, Folter und Mord an jüdischen StudentInnen gehörten zu ihrem Aktionsrepertoire, das häufig als „Rache für Eichmann“ deklariert wurde. Die Polizei von Buenos Aires weigerte sich in diesen Jahren regelmäßig, gegen die Täter zu ermitteln. Statt dessen ließ sie im Dezember 1962 im Rahmen einer „antikommunistischen Maßnahme“ elf jüdische Kultureinrichtungen der Hauptstadt per Dekret schließen.

Über die Rolle ehemaliger deutscher Nationalsozialisten bei den Staatsstreichen und antisemitischen Gewalttaten in Argentinien seit 1945 sind die vielfältigsten Vermutungen angestellt worden. Sicherlich hat es schon seit der Jahrhundertwende, als preußische Militärberater am Rio de la Plata die Rekruten schulten, immer wieder ideologische Affinitäten und auch Kooperation zwischen deutschen und argentinischen Militärs und Militaristen gegeben. Das gilt auch für die Nazis, die sich nach 1945 im Land niederließen. Doch für eine direkte Verwicklung in die Anschläge der letzten Jahre gibt es bislang keine Anhaltspunkte.

Auf die Affinität zwischen Antisemiten und Militärs deutet ein Ereignis hin, das für die jetzigen Ermittlungen von Bedeutung sein könnte. Im April 1994, also wenige Monate vor dem Anschlag auf die Amia und gut ein Jahr nach jener ersten Autobombe, entdeckten die Ermittler auf einer Insel im Paraná-Delta nahe der Hauptstadt ein riesiges Waffen- und Sprengstoffarsenal samt umfangreicher nationalsozialistischer Bibliothek. Der Verwalter der Insel, Alejandro Jorge Sucksdorf, hatte bis zwei Monate vor dem Fund beim Militärgeheimdienst Side gearbeitet, wo er dann wegen Faulheit entlassen worden sein soll. In früheren Jahren hatte er zur Leibgarde des Juntagenerals Galtieri gehört – der letzte General, der für die Militärdiktatur die Staatsgeschäfte führte – und gilt als Freund von Admiral Emilio Massera, der die schlimmsten Folterungen während des Regimes zu verantworten hat.

Unmittelbar nach der Verhaftung Sucksdorfs unterlief dem Polizeichef der Provinz Buenes Aires, Pedro Klocky, offenbar ein Lapsus gegenüber der Presse: Freimütig erklärte er, die Insel diene als geheimes Übungsgelände für den Militärgeheimdienst. Die Heeresführung beeilte sich, zu dementieren. Sucksdorfs Frau gab damals zu Protokoll, ihr Mann habe einem Mitarbeiter des Exputschisten Mohamed Ali Seineldin kurz vor dem Anschlag auf die israelische Botschaft 30 Pakete Plastiksprengstoff ausgehändigt. Beide Hinweise wurden damals von offizieller Seite nicht ernsthaft weiterverfolgt.

Aus diesem Grund hat die jüdische Gemeinde Argentiniens auch nach den jetzigen Verhaftungen allen Anlaß zur Skepsis. Ob sie tatsächlich dazu führen, daß eventuelle Verbindungen hochrangiger Militärs zu den Attentätern aufgedeckt werden, ist ungewiß. Denkbar wäre auch, daß die Verhaftungen von Militärs mittleren Ranges dazu dienen sollen, den Druck, den israelische Behörden wegen der Aufklärung der beiden Attentate auf Argentinien ausüben, vorübergehend abzufedern.