Befreiung auf russisch

■ Nach Perwomaiskoje geht die Presse mit Boris Jelzin hart ins Gericht. Und entlarvt die Desinformationspolitik

Moskau (taz) – Am Wochenende wurden in Moskau neue Einzelheiten des Geschehens in Perwomaiskaja bekannt. Die russische Presse reagiert immer feindseliger angesichts der offenbar werdenden staatlichen Desinformationspolitik. Ihre Angriffe richten sich vor allem gegen Präsident Boris Jelzin selbst. Der verteidigte sich am vergangenen Freitag auf einer Pressekonferenz: „Die Operation war korrekt geplant und ausgeführt“, sagte er. „Tolle Hunde muß man erschießen.“

Was nun das Erfolgreiche an der Aktion überhaupt war, fragen sich alle. Wer Augenzeugenberichte und offizielle Angaben gegeneinander abwägt, kommt zu dem Schluß, daß Rebellenführer Salman Radujew mit mindestens 100 seiner Leute und einer ungeklärten Anzahl von Geiseln in die tschetschenischen Berge entkommen ist. Diese Zahl nannte auch der tschetschenische Rebellenführer Dschochar Dudajew in einem Interview. Nach seinen Worten soll Salaman Radujew in Tschetschenien vor ein Kriegsgericht gestellt werden, da er eigenmächtig gehandelt habe.

Zum Schicksal und zur Zahl der in Perwomaiskaja verbliebenen Opfer äußert sich in der Sonnabendausgabe der Iswestija-Reporter Valery Jakow. Er hatte sich von tschetschenischer Seite her nach Perwomaiskaja durchgeschlagen und blieb bis kurz vor dem Bombardement in dem Dorf. Gerüchte über unterirdische Befestigungen oder Keller dort kann er nicht bestätigen. Jakow kommt zu dem Schluß, daß sich in den Händen der Geiselnehmer mindestens 180 Menschen befunden hatten, darunter auch Kinder. Die offizielle Angabe, derzufolge 80 Geiseln „befreit“ wurden, hält er für um das Doppelte übertrieben. Dagegen habe man die Gesamtzahl der Geiseln offiziell absichtlich zu niedrig angesetzt, weil man „über 100 Menschen von vornherein dem Tod und dem Vergessen anheim gegeben hatte“. Die Tageszeitung Moskowski Komsomoljez schreibt dazu: „Artillerie und Luftwaffe begannen die Operation, um die Geiseln zu befreien – vom Leben.“

Jakow traf zwölf Männer, die sich aus der Flammenhölle retten konnten. Die Geiseln wurden aber nicht freudig begrüßt, sondern in einem sogenannten Filtrationspunkt 24 Stunden lang harten Verhörmethoden unterzogen. Sie bekamen in der ungeheizten Hütte nur zwei nackte Matratzen und keinerlei Verpflegung.

Kein Wunder, fehlten doch bei der Aktion sogar das Essen und warme Schlafsäcke für die Sondereinheiten im Feld. Die drei Tage bis zum Sturm auf Perwomaiskaja hatten die Soldaten unfreiwillig gefastet. Jakow filmte mit seiner Kamera, wie sie hungrig über des Perwomaiskajaer Vieh herfielen und sich mit Alkohol aus den Sanitätskästen wärmten. Der frischgebacke Geheimdienstchef General Barsukow und der neue Leiter der präsidialen Administration, Ex- nationalitätenminister Jegorow, hatten vor lauter Karrierestreben die eigenen Leute vergessen. Über Jegorow schreibt Moskowski Komsomoljez: „Allein die Tatsache, daß der Mann, den man wegen Budjonowsk gefeuert hatte, am selben Tage befördert wurde, an dem der Sturm auf Perwomaiskaja begann, spricht für die extreme Dürftigkeit des Präsidenten.“

Allgemein als peinlich wird in Moskau auch Jelzins Hilfsangebot an die Türkei empfunden, die den Konflikt um die von tschetschenischen Terroristen und Symphatisanten geenterte Fähre „Avrasya“ ohne Blutvergießen allein löste. Dazu die Iswestija, die an anderer Stelle bemerkte, daß Jelzins Härte seine Chancen auf das Präsidentenamt verbessern solle: „Nachdem wir uns in Perwomaiskaja an den neurussischen Befreiungsmethoden satt gesehen haben, begriffen wir: Unsere frischgebackenen Spezialisten hätten dieses Schiff versenkt, wenn man sie nur gelassen hätte. Die paar Geiseln, die dann wieder hochgetaucht wären, hätte man als ,befreit‘ bezeichnet – nach dem ,Filtern‘“. Barbara Kerneck