: Leben im Land der Mörder
■ Wie Juden die Nachkriegszeit in Deutschland empfanden. Zeitzeugenberichte über Flüchtlingslager und Neubeginn
„Zuerst wollte man alle DPs – jüdische und nichtjüdische – zusammen unterbringen. Das löste unter den jüdischen DPs einen Sturm der Empörung aus. Dieser lag darin begründet, daß die meisten nichtjüdischen DPs ja aus Osteuropa stammten und dort sehr oft mit den Nazis kollaboriert hatten. Also ehemalige SS-Helfer haben sich dann ihre Nazi-Uniform abgestreift und sich als verfolgte DPs ausgegeben.“ Dies berichtet Arno Lustiger, einer von 14 Zeitzeugen, die der Historiker Michael Brenner für sein neuestes Buch befragt hat.
Das Buch handelt von den Erfahrungen osteuropäischer Displaced persons (DPs) in den ersten fünf Nachkriegsjahren sowie von den wenigen deutschen Juden, die sich entschlossen, in Deutschland zu bleiben. Unter Berücksichtigung zeitgenössischer hebräischer, jiddischer und deutscher Quellen und einer Auswertung bereits erschienener Literatur bietet der erste Teil auf 100 Seiten einen knappen Überblick über die jüdische Situation im Nachkriegsdeutschland.
Die zentrale Frage lautet: Wie sind die überlebenden Juden mit der psychischen Bürde umgegangen, daß sie auf deutschem Boden festsaßen – und wie die „Exodus“- Affäre bewies, von den Briten sogar gewaltsam hierher zurückgebracht wurden?
Weiterhin in Lagern, hinter Stacheldraht und uniformierter Bewachung eingeschlossen, schufen sie eine autonome Kultur und wählten ihre eigene politische Führung. Sie gründeten Schulen, Theatergruppen, Sportclubs, eigene Zeitungen und historische Kommissionen und pflegten das religiöse Leben. Nach Brenner ist dies eine der vielen „Ironien“ der DP-Gemeinden, daß ausgerechnet Nachkriegsdeutschland „zum Epilog der jiddischen Vorkriegskultur Osteuropas en miniature“ wurde.
„Daß die Wannseekonferenz nicht das letzte Wort sein kann im Leben der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland“, wie es der langjährige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski im Gespräch mit Brenner ausdrückte, markierte für die Minorität, die nach der großen Auswanderungswelle nach Israel Ende der 40er Jahre geblieben war, den Neubeginn. Der Leser erfährt viel über die unendlichen Schwierigkeiten, mit denen die Gemeinden in den Anfangsjahren zu kämpfen hatten.
Die Stärke des Buches ist, daß es „nicht nur aus der gesicherten Distanz des Wissenschaftlers“ entstanden ist, sondern auch ein „Produkt der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte“ ist. „Meine Eltern symbolisieren sowohl das Erbe ostjüdischer wie auch deutsch-jüdischer Kultur im Nachkriegsdeutschland und hatten selbst aktiven Anteil am Wiederaufbau einer kleinen jüdischen Gemeinde“, schreibt Brenner in seinem Vorwort.
Den assimilierten deutschen Juden fiel die Integration der osteuropäischen Juden mit ihrer traditionellen jiddischen Kultur in die neugegründeten Gemeinden schwer. Aber noch bedrückender war die doppelte Isolation nach außen. Von der übrigen Bevölkerung hielten sie sich fern, und die offizielle Politik brauchte lange, bis sie sich der Juden erinnerte. Und besonders bitter: Von den internationalen jüdischen Organisationen wurden sie isoliert und wegen ihrer Präsenz im Land der Mörder stigmatisiert.
Dem zweiten Teil, der auf rund 70 Seiten den Zeitzeugen gilt und dem Buch subjektive Authentizität und seinen besonderen Reiz verleiht, folgt ein kurzer Ausblick auf fünf Jahrzehnte jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland. Er widmet sich der Situation der Juden in der DDR, der demographischen Entwicklung, der Frage nach der jüdischen Identität und der zukünftigen Entwicklung durch den Zuzug von Juden aus den GUS-Ländern. Brenner kritisiert die ideologische Rolle der Juden im Nachkriegsdeutschland und bezweifelt die vielbeschworene Normalität jüdischen Lebens. Gibt es eine „Jüdische Kultur ohne Juden?“ fragt er polemisch. Dorothee Stoupel
Michael Brenner: „Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945-1950“. Beck Vlg., München 1995, 254 S.,24 Mark
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