: Kleine Einführung in die Zeitungswissenschaft II Von Martin Sonneborn
Eine schöne Sache wäre es, die heutige Kolumne mit dem Satz zu beginnen: „Lübeck: Die Brandkatastrophe hinterläßt ein ungutes Gefühl.“ Leider jedoch ist das schlechterdings unmöglich: Die Zeile ist nur ausgeliehen, ihr stolzer Besitzer ist in Wirklichkeit die Zeitschrift Focus. Und auch ein Anfang mit dem hübschen Ausruf „Überraschend behutsam schieben sich vier Finger und eine halbe Hand in mich hinein“, würde sicherlich nach anfänglichem Jubel in kürzester Zeit als schamloser Raub gebrandmarkt; war doch ein Prostata-Reporter der Bild-Zeitung in diesem Fall und unter hohem persönlichen Einsatz der schnellere Mann. So bleibt für den Anfang eigentlich nur der Satz, der bis heute in der deutschen Pressegeschichte aus gutem Grund selten bis gar nicht für den Einstieg gewählt wurde: „Das Denken überlassen Sie mal besser den Orthopäden!“
Das Denken! Den Orthopäden! Etwas derart Ausgefallenes können nämlich nicht mal Focus oder Bild ersinnen, solche Bonmots setzt höchstens das Leben selbst in die Welt, in diesem Fall ein Berliner Orthopäde, der damit die kritische Diagnose der Krankengymnastin Katja argumentativ aushebeln wollte. Nun kann aber auch der Krankengymnastin Katja nicht gerade die gedankenlose Dummheit ins Gesicht geschrieben stehen. Denn einen Tag später wurde sie in einer Videothek im traditionellen Berliner Arbeiterbezirk Wedding mit den Worten begrüßt und vertrieben: „Filme zum Denken ham wir hier aber nich!“ Was wiederum die Frage aufwirft, ob es andererseits eigentlich spezielle Videotheken für Orthopäden gibt mit dem Sperrbereich „Filme zum Denken“ beziehungsweise wohin das noch alles führen soll...
Und nun zu etwas ganz anderem: Nicht immer ist die Welt der Ärzte so, wie sie derzeit der Prostata-Reporter und seine Kollegen von Darm und Lunge in großer Bild-Serie darstellen. Manchmal legt auch der gewissenhafteste Arzt für einen Moment das Stethoskop aus der Hand, unterbricht kurz das Denken und gönnt sich den Genuß eines befreienden Lachens. So etwa, wenn auf der Unfallstation der Frankfurter Uniklinik ein neu angekommener Herr darüber klagt, einen Deo-Roller im Enddarmbereich mit sich zu führen und auf die erstaunte Nachfrage grummelnd äußert, daß er wohl in kleidungsloser Manier vom Badewannenrand abgerutscht sei genau auf den Deo-Roller, der zufällig in der leeren Wanne gestanden habe, und ehe er sich versah ... Den Rest kann man sich ausmalen: schlupp! Allerdings darf der geschilderte Fall wohl eher als Ausnahme im ärztlichen Alltag gesehen werden, in der Regel klagen die meisten Patienten weit lieber über Kopfschmerzen oder Halsentzündungen oder Reißen im Rückenbereich. Oder aber auch, und dann also doch, wenn man einem Bericht des seriösen Nachrichtenmagazins Spiegel Glauben schenken will, mal über eine zusammengerollte Bild-Zeitung – schlupp! – dort, wo das Frankfurter Unfallopfer seinen Deo-Roller aufbewahrte. Was wiederum den Kreis zum Ende hin schließt: Wenn man das Denken noch mal kurz den Orthopäden überläßt, um sich wohlgefällig auszumalen, daß in diesem speziellen Fall die Bild-Zeitung mitsamt ihrer Arztserie endlich da steckt, wo sie unweigerlich hingehört.
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