"Reformen sind nicht gestoppt"

■ Heftiges Werben der russischen Delegation für die Aufnahme ihres Landes in den Europarat

Straßburg (taz) – „Wenn der Europarat Rußland heute mit offenen Armen empfängt, dann werden die belagerten Tschetschenen das als Unterstützung des russischen Kriegskurses werten müssen“, warnte der litauische Expremier Vytautas Landsbergis gestern in Straßburg. Und Norwegens Hallgrim Berg erinnerte an die „fast 30.000 toten Tschetschenen des letzen Jahres, „vor allem Zivilisten“.

Noch vor einem Jahr hatte der Europarat das russische Beitrittsgesuch wegen der Kämpfe in Tschetschenien auf die lange Bank geschoben. Bei der für gestern abend anberaumten erneuten Abstimmung über Rußlands Aufnahme sah das anders aus. Für die meisten Fraktionen schien der Kaukasus-Konflikt an Gewicht verloren zu haben. Die für eine Aufnahme erforderliche Zweidrittelmehrheit in der beratenden Versammlung lag in greifbarer Nähe. Eine Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen und Kommunisten unterstützte den russischen Antrag. Nur bei den Konservativen, der viertgrößten Fraktion, wollten fast alle Abgeordneten dagegen stimmen. Zünglein an der Waage waren deshalb die Christdemokraten, nach den Sozialisten zweitstärkste Fraktion.

Einen Sinneswandel ohne Gesichtsverlust erlaubte den Abgeordneten der jüngst zurückgetretene russische Menschenrechtsbeauftragte Sergej Kowaljow. Noch vor einem Jahr hatte er die Aufnahme Rußlands in den Europarat strikt abgelehnt. Inzwischen aber lautet seine Losung: „Demokraten im Westen müssen den Demokraten im Osten helfen.“ Kowaljow hofft dabei vor allem auf die Wirkung der vom Europarat ausgearbeiteten Abkommen. Besonders wichtig ist die Menschenrechtskonvention, deren Einhaltung ein europäischer Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg überwacht. Wird die Konvention von Rußland unterzeichnet, dann können sich alle RussInnen mit einer Beschwerde gegen Grundrechtsverstöße ihres Staates wehren. „Heute überwinden wir die Teilung Europas“ sagte der spanische Sozialist Miguel Angel Martinez. „Nur eine Stabilisierung Rußlands kann verhindern, daß aus dem Kaukasus ein zweiter Balkan wird“, begründete der Schweizer Liberale Ernst Mühlemann sein Ja. An großen Worten herrschte gestern wahrlich kein Mangel. Angesichts des durch die Hallen wehenden Weltgeistes nahm man es dann auch mit den eigenen Aufnahmekriterien nicht mehr ganz so genau. Immerhin hatte der Rechtsausschuß des Europarats festgestellt, daß Rußland noch kein echter Rechtsstaat sei. „Noch wird die Todesstrafe vollzogen, und manche Gefängnisse sind so stark überbelegt, daß dies allein schon als Folter bezeichnet werden könnte“, sagte der deutsche Sozialdemokrat Rudolf Bindig. Wegen der „unbestreitbaren Fortschritte“ Rußlands sprach er sich dennoch für eine Aufnahme aus.

Mit der Debatte über Rußlands Aufnahmeantrag konnte der Europarat endlich einmal aus dem Schatten der Europäischen Union heraustreten. Zahlreiche Abgeordnete, wie etwa der griechische Kommunist Efstratios Korakas, begründeten ihre Jastimme sogar mit dem „enormen Prestigegewinn des Europarates, wenn „er ein so großes und mächtiges Land“ aufnehme. Vielen Kollegen ist es sowieso schon lange ein Dorn im Auge, daß die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Menschenrechtsfragen immer mehr an Gewicht gewonnen hat. „Wir sollten Rußland nicht der OSZE überlassen“, warnte der Schweizer Mühlemann. Ernst genommen wurde auch die Drohung des russischen Rechtsradikalen Wladimir Schirinowski, daß Rußland im Falle einer Ablehung einen „Osteuroparat“ als Konkurrenzgremium gründen könnte. Mit einer moderaten Rede warb der Kommunistenchef Genadi Sjuganow um die Hand des Europarats: „Sehen Sie nicht zu sehr auf unsere Regierung, mit der wir auch nicht immer einverstanden sind. Lassen Sie lieber uns russische Abgeordnete in ihren Reihen mitarbeiten.“ Zuvor hatte für die russische Delegation Wladimir Lukin versichert: „Die Reformen sind nicht gestoppt, die westlichen Medien sind zu sehr auf einzelne Personen fixiert.“ Christian Rath

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