„Die Verlierer der Reformpolitik fühlen sich heute betrogen“

■ Artur Hajnicz, Direktor des Zentrums für Internationale Studien in der polnischen Schumann-Stiftung, zu der Spionageaffäre

taz: Der Vorwurf, daß der Regierungschef Polens ein KGB- Spion sei, fiel schon Ende letzten Jahres. Warum hat es so lange gedauert, bis Józef Oleksy zurücktrat?

Hajnicz: Die Regierung war auf die überraschende Entwicklung nicht gefaßt. Sie spielte auf Zeit. Oleksy mußte so lange im Amt bleiben, bis ein neuer Ministerpräsident ausgeguckt war. Es zeichnete sich ja bereits ab, daß es zur Umbildung der Regierung kommen würde. Oleksy versuchte, die Regierungskoalition zwischen Bauernpartei und Allianz der demokratischen Linken (SLD) zu retten.

Glauben Sie, daß die Spionageaffäre jemals völlig aufgeklärt wird?

Ja und nein. Die Öffentlichkeit wird vielleicht nicht alles erfahren. Es ist unmöglich, Informationen aus Geheimdienstakten zu veröffentlichen, die möglicherweise das Leben von polnischen Agenten im Ausland gefährden. Doch im Prinzip gibt es heute keine Möglichkeit mehr, die Spionageaffäre rund um Oleksy ins Leere laufen zu lassen. Die Ermittlungen sind eingeleitet. Aus der Affäre ist ein rechtlicher Fall geworden, der vor Gericht verhandelt wird.

In einer der letzten Umfragen hat das Bündnis der Demokratischen Linken, dem ja Oleksy angehört, sogar noch an Popularität gewonnen. Wie ist das denn zu erklären?

Die SLD ist an die Macht gekommen, als sich die ersten positiven Folgen des harten Reformkurses in Polen bemerkbar machten. Die Parteien, die aus der Solidaritätsbewegung hervorgegangen sind und die ersten demokratisch gewählten Regierungen stellten, haben die Gunst der Wähler weitgehend verspielt. Und zwar paradoxerweise durch ihre langfristig gesehen richtige Politik. Die Verlierer der Reformpolitik waren oft genug jene, die den Wandel erkämpft hatten. Sie fühlen sich heute betrogen.

In der letzten Zeit wird auch Präsident Kwasniewski vorgeworfen, in die Spionageaffäre verwickelt zu sein. Warum wird das vom polnischen Volk so hingenommen?

Das klingt alles zu unglaublich. Das kann nicht sein. Das stimmt wohl alles nicht. Ich weiß es aber auch nicht.

Rächt sich nun die „Politik des dicken Schlußstrichs“?

Die Frage der Vergangenheitsbewältigung ist eine ausgesprochen heikle. Wir haben noch immer kein Konzept, wie wir mit den Akten des Sicherheitsdienstes umgehen sollen. Unsere bisherigen Erfahrungen mit der „Durchleuchtung“ sind eher negativ. Jetzt fordert die SLD die Offenlegung aller Akten. Das kann nur eines bedeuten: eine erneute Hatz auf die ehemaligen Regimegegner. Die Genossen haben dort keine Akten. Die polnischen IMs rekrutierten sich doch aus der Opposition. Sonst hätte das System ja keinen Sinn gemacht. Eine „Durchleuchtung“ à la SLD wird die verbliebenen Reste der Solidarność-Opposition entgültig zerstören. Interview: Gabriele Lesser

Artur Hajnicz war 1982 bis 1989 für die Solidarność im Untergrund tätig. Von ihm ist das Buch erschienen: „Polens Wende und Deutschlands Vereinigung. Die Öffnung zur Normalität 1989–1992“, Schöningh-Verlag, Paderborn, 1995