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Nebulös flüchtige Farbnotizen

■ Die Kunsthalle zeigt Bilder, die William Turner von deutschen Landen malte

Der Maler Joseph Mallord William Turner, von der Polizei im Fremdenbuch schon mal als die zwei englischen Herren J. Mallord und W. Turner registriert, reiste in der ersten Häfte des vorigen Jahrhunderts siebenmal für längere Zeit nach Deutschland. Er besucht die Städte des Rheins, der Mosel und des Neckars, der Donau und der Oberelbe. Alles Romantische von Burg Eltz bis Heidelberg, alles Typische von Berlin über Dresden bis Wien hält er in Zeichnungen fest. Auf der Fahrt nach Kopenhagen besucht er auch Hamburg, kauft hier ein neues Skizzenbuch und zeichnet die Ansicht über die Binnenalster auf die Türme der Stadt. Und hier in der Kunsthalle sind nun 150 seiner deutschen Zeichnungen und Landschaftsaquarelle auf den grau und blau getönten Wänden des Kuppelsaals zu sehen.

Mit der Schlacht von Waterloo 1815 war eine stürmische Zeit zu Ende gegangen, erst nach dem Sieg über Napoleon war es Engländern wieder möglich, im ehemals französisch dominierten Europa zu reisen. Nun unterhielten England und Deutschland enge Beziehungen. Von 1760 bis 1837 waren die Könige von England zugleich Könige von Hannover (und wären es geblieben, wenn das Hannoveraner Gesetz die weibliche Thronfolge zugelassen hätte), am Londoner Hof war die Umgangssprache der Familie deutsch und Königin Victoria heiratete 1840 wiederum einen deutschen Fürsten: Albert von Sachsen-Coburg-Gotha. An den Dampfschiffen, die auf dem Rhein seit 1827, auf der Donau seit 1837 erstmalig die Reisen erleichterten, waren englische Firmen beteiligt. Sir Walter Scott, Lord Byron, Coleridge und viele andere Dichter und Künstler schätzten das romantische Deutschland. Der preußische Architekt Karl Friedrich Schinkel bereiste England und war, wie sein nicht minder berühmter bayerischer Kollege Leo von Klenze, Mitglied des Institute of British Architects. Englische Ingenieure gestalteten wesentlich den Wiederaufbau Hamburgs nach dem großen Brand von 1842, Sir George Gilbert Scott entwarf hier die neue Hauptkirche St.Nicolai.

Turner reiste von 1817 an bis ins Alter von 70 Jahren 1844 jeden Sommer durch Europa. In Tausenden von Zeichnungen, bis zu sechs auf einer kleinen Seite, erfaßt er die Eindrücke während der Fahrt mit dem Schiff oder auf der Wanderung. Abends im Gasthaus werden sie mit Farbe überarbeitet. Am Ende des Prozesses stehen Monate später im Londoner Atelier ausgeführte, große Landschaftsbilder in Öl. Allerdings sind manche Farbblätter auch ohne jede Vorzeichnung: Hier hat Turner, wie ein späterer Plein-air-Maler, in der Natur selbst die Motive in Farbe umsetzt.

Der große Reiz von Turners Ansichten ist die Spannung zwischen individuellen Kürzeln in künstlerisch weit über seine Zeit hinausweisender Freiheit der Gestaltung und dem nahezu biedermeierlichen Eindruck einer hinter aller Subjektivität durchscheinenden Ganzheit der dargestellten Orte. Und doch reißt diese im Grunde harmonische Welt mitunter auf und wird in ganz überirdischem Farblicht visionär.

Von einer stärker an traditionellen Veduten und der späteren Umsetzbarkeit in Stahlstiche orientierten Bildauffassung ausgehend, lösen sich Turners Farbnotizen in durchleuchtete Leichtigkeit auf. Doch den Zeitgenossen ging das Genie des Akademieprofessors zu weit. Ihnen erschienen die Bilder als flüchtig und nebulös, als verwildertes Alterswerk eines fehlgeleiteten Talents.

Wie sich die Zeiten ändern können: Heute lieben manche Turners Bilder so sehr, daß sie sie stehlen lassen wie die zwei späten Gemälde, die 1994 zusammen mit einem Caspar David Friedrich der Hamburger Kunsthalle aus der Frankfurter Ausstellung „Goethe und die Kunst“ spurlos verschwanden.

Hajo Schiff

Kunsthalle, bis 31. März, Katalog im Prestel Verlag, 49 Mark.

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