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Sondertrupp für schönen Schein

Seit zwei Jahren verscheucht die „Operative Gruppe SO 36“ Junkies und Jugendgangs vom Kotti. Straftaten von Jugendlichen aber sind gleich geblieben  ■ Von Barbara Junge

Der Verein SO 36 wird aufgelöst – die Polizeieinheit „Operative Gruppe SO 36“ feiert zweijähriges Bestehen. Treffender kann man die Entwicklung in Kreuzberg kaum beschreiben. „Kreuzberg ist politisch am Ende“, klagt Rainer Sauter, der zehn Jahre lang mit dem Verein SO 36 in Kreuzberg für Kreuzberg gestrampelt hat. Doch das ist vorbei. Seit einigen Wochen arbeitet er als Stadtrat im Wedding. Der Verein soll demnächst aufgelöst werden. Der Bezirk hat keine Gelder mehr bewilligt.

Sauters Weggang ist symptomatisch. Der Putz der politischen Solidargemeinschaft bröselt, und zum Vorschein kommen die sozialen Spannungen. Nur noch selten sammeln sich am Kottbusser Tor Demonstranten gegen alles Böse dieser Welt. Die einstige Hochburg der Solidarität zerfällt in ihre Einzelteile. Seit die „Operative Gruppe SO 36“ rund um das Kottbusser Tor Junkies und Jugendgangs aufscheucht, verteilen sich die Szenen auf die Plätze und Straßen im ganzen Kiez. Zum Beispiel auf dem Mariannenplatz. „Heute ist gerade Ruhe“, erzählt Peter Wesche, Pförtner im Bethanienhaus. „Sonst sind die Abhängigen oft hier, aber jetzt gerade sind sie zum Kottbusser Tor gezogen, in die U-Bahn.“

Der Mariannenplatz liegt da wie ausgestorben. Das runde Toilettenhäuschen bietet keine Wärme, und die Sträucher sind so kahl, daß man sich vor keiner Polizeistreife verstecken kann. Neben dem Müllkasten liegt noch eine kleine Plastikkanüle. Die Situation ist katastrophal, der Platz, auf dem in den Achtzigern regelmäßig Straßenfeste gefeiert wurden, verwaist. Die Frage ist nicht, ob hier etwas getan werden muß, sondern was. „Die Junkie-Szene ist doch nur wie ein Haufen Hundekot auseinandergespritzt, als die Polizei draufgeschlagen hat“, sagt ein Anwohner. Den Kottbusser Damm hinauf, auf den Mariannenplatz, in die kleinen Nebenstraßen und in Teilen sogar schon hinüber zum Hauptbahnhof, wo jetzt der Bundesgrenzschutz einen neuen Problembereich fürchtet. Im Jugendtreff Naunynritze, einen Steinwurf vom Kottbusser Tor entfernt, lümmelt Rezul cool auf seinem Stuhl im Café und gibt prahlerisch seine Erfahrungen mit der „OG SO 36“ zum Besten. „Neulich hab' ich mein Messer zu schnell gezogen, dafür hat mir einer von denen eine an den Kopf verpaßt.“ Dem Ansehen des 18jährigen in der Clique hat das nicht geschadet, ab und zu gibt es eben einen kleinen Zusammenstoß mit den Zivilen. „Normalerweise lassen wir uns aber nicht erwischen, wir riechen Bullen schon von weitem“, begrenzt Rezuls Freund Leon die Schmach. „Die Sondertruppe sorgt hier für den schönen Schein, darunter hat sich gar nichts geändert, auch nicht die Kids“, kritisiert der Sozialarbeiter in der Naunynritze, Neco T., der sich mit dem alltäglichen Streß der Jugendlichen beschäftigen muß.

Und das nicht zu knapp: Laut Statistik sind die Straftaten von Jugendlichen in den vergangenen drei Jahren berlinweit gestiegen. Während die Delikte der Jugendlichen zwischen 18 und 21 Jahren von 14.000 im Jahr 1992 auf 13.360 leicht sank, sind die Kinder unter 14 Jahren für Wachstumsquoten verantwortlich, auf die jeder Unternehmer stolz wäre: 1992 brachten es die Kinder auf über 8.000 kriminelle Handlungen, 1994 reichte die Energie schon für über 9.000 Gesetzesübertretungen. Daran konnte auch die „Operative Gruppe SO 36“ nichts ändern. „Die von der OG haben immens viel gemacht. Aber sie sind an die wesentlichen Grundlagen der Kriminalität gar nicht rangekommen“, bewertet Rainer Sauter die Lage in Kreuzberg. Er kennt das Problem der Jugendarbeit: Polizeieinsätze stören eher die Integration gerade der ausländischen Jugendlichen im Bezirk, als daß sie helfen. „Aber die OG muß eben eine Senats-Sicherheitspolitik durchziehen. Kreuzberg wird mal wieder mißbraucht, um den starken Mann zu spielen“, fügt er desillusioniert an. Was bleibt, ist das soziale und politische Vakuum.

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