Augen auf und Gott vertrauen!

Zwischen Guayaquil und Alausi in den ecuadorianischen Anden schraubt sich die steilste Eisenbahn der Welt nach oben. Doch die marode Bahnstrecke ist von Stillegung bedroht  ■ Vom Zugdach Amos Veith

Als der überfüllte, klapprige Überlandbus Bucay erreicht, ist mir kotzübel. Zwischen Hühnern, Töpfen mit dampfender Suppe und quiekenden Ferkeln ist die Luft verbraucht. Längst gibt es keine Asphaltstraße mehr. Bei jedem zweiten Schlagloch stoße ich mit dem Kopf an die Decke.

Bucay, am Fuß der Anden, ist ein kleines Städtchen mitten im Urwald Ecuadors. Der Ort erinnert an eine Westernstadt. Viele Häuser sind verfallen, einige ausgebrannt. Der Rio Chanchán rauscht an einfachen Hütten vorbei. Wichtigste Anbindung an die Außenwelt ist die Bahnlinie, die mitten durchs Dorf führt. Parallel zu den verrosteten Gleisen liegt die Hauptstraße Bucays: Der Kolonialwarenladen hat Milch, Hustensaft, ja sogar Gummistiefel im Angebot. Das Restaurant daneben wird von einem durch vier Holzpfähle getragenen Wellblechdach überspannt. Zwei Frauen kochen ein Gericht aus Reis mit gebackenen Bananen und Fleisch. An Ständen werden Papayas und Apfelsinen angeboten. Gerupfte Hühner hängen an einer Leine. Es ist schwül. Das Thermometer zeigt mehr als 30 Grad.

Wir wollen ein Teilstück der uralten, maroden Bahnstrecke Ecuadors erleben. Deshalb steigen wir hier in den Zug nach Alausi. Die Staatseisenbahn Empresa Nacional de Ferrocarriles (ENFE) blickt auf eine über hundertjährige Geschichte zurück. 1874 dampft die erste Lokomotive aus Yaguachi, einer kleinen Stadt bei Guayaquil, hinaus. Ecuador signalisiert der Welt: Wir sind nicht rückständig! Wir holen auf! Doch schon damals war die Entwicklung der Bahn umstritten. Ecuadors erster liberaler Präsident, Eloy Alfaro, entscheidet 1897, daß ein Unternehmen aus den USA die weitere Strecke bauen und betreiben soll. Seine Gegner werfen ihm den Ausverkauf des Landes vor. Sitz der Guayaquil & Quito-Bahn (G&Q) wird dennoch zunächst New York. Am 25. Juni 1908 schnauft die Dampflok Nr. 8 zum ersten Mal von der Küstenstadt Guayaquil nach Quito. Vierzig Stunden braucht der Zug für die 445 Kilometer. Zuvor dauerte eine Maultierreise von der Küste bis in die Hauptstadt noch 14 Tage.

Die Bahn windet sich bis über 3.000 Meter die Anden hinauf, erreicht bei Urbina sogar eine Paßhöhe von 3.609 Metern. Eine solche Zugstrecke zu bauen war kurz nach der Jahrhundertwende eine technische Meisterleistung. Erdrutsche, Überschwemmungen und Verschleiß machen heute viele Abschnitte kaum noch passierbar. Deshalb verkehrt die Bahn täglich nur noch auf 130 Kilometern zwischen Guayaquil und Alausi.

Indiofrauen bereiten sich in Bucay schon früh auf die Ankunft des Zuges vor. Sie haben bunte Ponchos an, manche tragen ein Kind in einem Tuch auf dem Rücken. Viele Frauen nutzen die Bahn, um in anderen Orten an der Strecke ihre Waren anzubieten. Endlich, um 11.20 Uhr kommt er, mit 70 Minuten Verspätung. Säcke mit Getreide werden verstaut, Holzlatten und Schweine. Wir hieven unsere Rucksäcke auf das Dach eines Waggons und kletten hinterher. Wegen des Panoramablicks.

Die alte Diesellok setzt sich dampfend und quietschend in Bewegung. Der Zug mit hölzernen, alten Wagen rattert schneller und schneller zwischen den Häusern hindurch. Er schwankt bedenklich. Ob wir uns auf dem Dach halten können? Sicherheitshalber prüfen wir noch einmal, ob die Rucksäcke gut festgeschnallt sind.

Es geht an Kaffee-, Kakao- und Bananenplantagen entlang und an einigen Baumwollfeldern. Dann führt die Strecke durch dichtes Grün, an riesigen Bäumen mit Schlingpflanzen vorbei. Der Nebel hängt tief. Manchmal müssen wir uns vor Bambusruten oder Zweigen von Eukalyptusbäumen in Sicherheit bringen. Immer wieder stoppt der Zug auf freier Strecke: mal werden Holzlatten aufgeladen, mal Getreide. Das kann dauern. Planmäßig halten wir zum Beispiel in Naranjapata, Huigra oder Naranjito. Winzige Dörfer. Lehmhütten mit strohbedeckten Dächern. Kinder stehen an den Gleisen, halten sich bei Einfahrt der Bahn die Ohren zu, starren gebannt auf die silberfarbene Diesellok. Einige winken und betteln um Süßigkeiten oder Kleingeld.

Vor etwa einem Jahr empfahl die nationale Entwicklungsbehörde Ecuadors CONADE, die staatseigene Eisenbahnstrecke stillzulegen. Die Restaurierung sei zu teuer, auch eine Privatisierung könne am chronischen Defizit, das sie einfahre, nichts ändern. Bei einer Stillegung ginge für einen Ort wie Naranjapata die einzige Anbindung an die Außenwelt verloren: Die einmal täglich verkehrende Bahn transportiert neben Menschen auch Wirtschaftsgüter und die Post. Vertreter der nationalen Eisenbahngesellschaft ENFE sprechen davon, daß sieben Prozent der über elf Millionen Ecuadorianer auf die Bahn als Verkehrsmittel angewiesen sind.

Weiter geht die Fahrt durch das Tal des Rio Chanchán. Kleine Bäche stürzen als Wasserfälle in die Schlucht. Der Fluß wird ständig breiter und reißender. Wir überqueren ihn auf abenteuerlichen Brücken: Vom Dach aus sind weder Gleise noch Träger oder Brückenpfeiler zu sehen. Wir scheinen über die Schlucht hinwegzuschweben. Häufig wird die Strecke vom Hochwasser des Flusses zerstört. Wir denken an die regelmäßigen Entgleisungen der Bahn, an die zahlreichen Unfälle, die es gegeben hat. Hier im Flußtal beginnt der lange Aufstieg nach Alausi, das 2.300 Meter höher liegt als Bucay. Immer enger wird die Schlucht des Rio Chanchán. Vom Zugdach aus schauen wir steile, mehrere hundert Meter hohe Felswände hinauf.

Wir erreichen Simbambe. Indiofrauen bieten durch die Zugfenster Kartoffeln, Reis und Fleisch mit einem Spiegelei darüber auf Porzellantellern an. Später holen sie die Teller wieder ab. Wie im Restaurant. Mit einem Maiskolben als Dessert kostet das Menü gerade eine Mark.

Kurz hinter Simbambe können wir die Teufelsnase „Nariz del Diablo“ sehen. Der Berg verdankt seinen Namen seiner ungewöhnlichen Form. Zwischen Simbambe und Alausi schrauben sich die Gleise an der Bergwand der Teufelsnase mehr als 500 Meter aus der Schlucht des Rio Chanchán hinauf: wohl die steilste Eisenbahnstrecke der Welt. Um Trassen für die Schienen zu schaffen, mußte man mit Dynamit in den Fels hineinsprengen. Mehrere hundert Arbeiter kamen dabei ums Leben. Grabhügel säumten den Weg der Gleise. Als Alausi 1902 erreicht war, lebte selbst der leitende Ingenieur John Harman nicht mehr.

Auf dem steilsten Stück liegen die Bahntrassen fast übereinander in der Wand der Teufelsnase. Sie sind durch vier Spitzkehren miteinander verbunden. Die Diesellok quält sich, fährt über eine Weiche, bleibt stehen, die Weiche wird umgelegt, die Lok schiebt die Waggons in entgegengesetzter Richtung weiter den Berg hinauf. Dann wieder eine Weiche. Stillstand. Die Wagen werden jetzt wieder gezogen. Eine geniale Idee, eine unkonventionelle Lösung. Vier Jahre stand der Bau der Bahn an dieser Stelle still, bis ein geeigneter, finanzierbarer Weg gefunden war, um an der Teufelsnase vorbeizukommen. Der Ausblick ist atemberaubend. Liegt überhaupt noch Boden unter den Gleisen? Auf dem Zugdach wird uns fast schwindelig. Immer kleiner werdend, bleibt der Bahnhof von Simbambe im Tal zurück. Jetzt wird es empfindlich kalt. Hart drückt das Wellblechdach. Ein paar Kurven noch, dann haben wir Alausi erreicht.

Die Debatte um das ecuadorianische Eisenbahnsystem zwischen Regierung und Eisenbahngesellschaft ENFE hat sich zugespitzt: Jedes Jahr wird die Bahn mit rund zehn Millionen Mark subventioniert. Trotzdem fährt sie noch immer ein Defizit ein. Nur zwei Strecken sind noch intakt. Das Ende der Bahn scheint unausweichlich. Man wirft der Regierung, seit 1925 wieder Eigentümerin der Bahn, Mißmanagement vor. 1994 wurden aus Frankreich neun Lokomotiven für insgesamt 28 Millionen Dollar gekauft. Weil die aber nicht auf die Schienen paßten, hätte das gesamte Gleisnetz Ecuadors erneuert werden müssen. Pläne hierzu liegen vor. Frankreich und Spanien hatten angeboten, eine Teilfinanzierung zu übernehmen. Doch die ecuadorianische Regierung lehnte ab.

Es steht schlecht um die alte Bahn. Und für viele Dörfer auch, denen durch die Einstellung jede wirtschaftliche Grundlage entzogen würde. Nicht zuletzt würden mit einem Schlag 2.000 Eisenbahner arbeitslos.

Und für Abenteurer ginge eines der spannendsten Reiseerlebnisse verloren. Präsident Eloy Alfaro, einer der ersten Passagiere der Bahn, schrieb in seinen Memoiren über die Fahrt: „Jedesmal, wenn wir nach Alausi kamen, sah ich die schrecklichen Abgründe vor mir, die selbst für Ziegen unpassierbar zu sein schienen. Ich schloß die Augen und vertraute den himmlischen Mächten.“ Dabei saß der Präsident nicht mal auf dem Dach des Zuges...

Infos: Gegen DIN-A5-Freiumschlag erhältlich bei der Botschaft von Ecuador, Koblenzer Str. 37, 53173 Bonn, Tel.: (0228) 352544.

Angenehmste Reisezeit ist die Trockenzeit von Juni bis Anfang November.