Kolumne Seid stolz, Kinder!

Gerade liefen auf CNN hintereinander zwei Reklamefilme für neue Platten – eine von Nat King Cole, die andere von Roger Whittaker –, auf denen sich ungefähr dieselben Stücke befanden: „What a Wonderful World“, „Smile“ und andere sogenannte Standards. Das ließ mich mal wieder an die Frage denken, was wohl so vom heutigen Liedgut in der Zukunft als „Standard“ gehandelt werden wird. Bei welchem Lied werden sich in fünfzig Jahren rüstige Mittsiebziger sentimental in die Augen schauen und sagen: „Hör doch, Schatz, sie spielen unser Lied!“ Bei „Gangsta's Paradise“ oder bei „I wanna be a Hippie“? Ach, ich freue mich schon auf den Roger Whittaker des Jahres 2046, der sich solcher Nummern anzunehmen hat (wahrscheinlich ist er ein Schlumpf).

Oder befinden sich die Evergreens von morgen auf Digital ist besser? Schließlich sind Toco-tronic jetzt ganz offiziell die zweitbeste Band der Welt – die Spex-Leser haben es so bestimmt. Aufgrund dieser Entscheidung bekamen sie allerdings seitens der Redaktion im Vorwort zu den Poll-Ergebnissen eine schriftliche Verwarnung ausgesprochen. Was seinerseits schon wieder preisverdächtig ist – die Zeit zwischen Hype und Niedermachen einer Band ist in diesem Fall noch kürzer als bei der für schnell verfliegende Begeisterung gefürchteten englischen Musikpresse üblich.

Jetzt wurde jedenfalls Hamburg von Spex in Sippenhaft genommen und für die Tocotronic-Begeisterung der Leser mußte als erstes Opfer der arme, kleine Camp-Imperial-Sampler bezahlen und sich im selben Heft harsch verreißen lassen. („Lange nicht mehr von Musik so schlechte Laune bekommen.“) Es ist nun beileibe nicht so, daß mir diese Platte besonders gut gefallen würde, im Gegenteil: auch nach meiner Einschätzung beläuft sich die Stückzahl der hörbaren Stücke dieses Samplers auf ungefähr eins. Aber wenn man bei Spex jetzt anfangen will, genau hinzuhören, dann kann man wohl kaum die Proberaum-Jams von Tortoise als „Zukunftsmusik“ verkaufen oder auf sechs Seiten ein trübe Band wie Air Miami feiern, von denen man ein klares Bild erhält, wenn man liest, daß ihr Vorbild niemand anders als die zu recht vergessene britische Drittliga-Band Northside aus den späten 80er Jahren ist.

Deswegen fordere ich trotz allem zeitweiligen Ekel gegenüber der inzestuösen Enge unserer provinziellen heimatlichen Musikszene zur Solidarität auf. Wir können uns ja doch keine andere kaufen. Und besser dran als der Rest der Republik sind wir allemal: Die einzige andere deutsche Stadt mit einer regen, produktiven Musikszene heißt Bietigheim-Bissingen (Pur und die Fantastischen 4 kommen von da). Also, Kinder, seid stolz auf Tocotronics zweiten Platz und genehmigt euch auf sie einen Schnaps. Wenn's sein muß sogar in Heinz Karmers Tanzcafé.