: "Haben wir nicht, geht nicht aus
■ Einverstanden mit dem Sozialismus, nicht aber mit seinen Produktionsbedingunge: Rudolf Bahro hat in den 70er Jahren mit DDR-Ingenieuren gesprochen. Wir dokumentieren Auszüge seiner Protokolle
Fachschulingenieur, geb. 1939, Technologe eines Betriebes:
Ich habe 1953 schlecht die Grundschule beendet. Auf dem Bauernhof, auf dem ich aufwuchs, bekam ich vom Vater routinemäßig Dresche für meine Zeugnisse. Bis zum 18. Jahr habe ich zu Hause arbeiten müssen. Ich ging daneben zur allgemeinbildenden Berufsschule, wo alle diejenigen zusammenkamen, die keinen Beruf erlernten. Einmal sollten wir das Volumen einer Kartoffelmiete ausrechnen – ich konnte es nicht. Das hat mich lange Jahre verfolgt. Mein Selbstbewußtsein war ganz niedergedrückt. Auf dem Hof hörte ich entweder kein Wort, oder es wurde gebrüllt. 1957 bin ich weggelaufen, nach Schwerin gefahren. Da ich nicht wußte, wohin, sprach ich Polizisten an. Daraufhin war ich bis 1961 bei der Bereitschaftspolizei. Nach dem 13. August wurde ich entpflichtet, weil man nach einer Diskussion, wo ich die Maßnahmen nicht gleich verstand und über individuelle Härtefälle sprach, zu dem Schluß kam, daß ich unreif und wegen meiner weichen Mentalität unzuverlässig sei. Ich hatte immer Mühe mit dem Unterschied zwischen Ziel und Praxis, Prinzip und Praxis. Das Ziel war immer klar, schon zu Hause auf dem Hof wußte ich, den übernehme ich nie, das wird sowieso Genossenschaft, und es ist gut so. Aber ich mußte alles mit mir selbst abmachen und fand auch bei der Polizei niemanden, der mir die komplizierteren Dinge hätte erklären können oder wollen.
Im November 1961 fing ich dann hier als Duro-Presser an. Das habe ich ein halbes Jahr gemacht. Zum ersten Mal erlebte ich dabei sachliche Kritik und Lob. Sie brauchten jemanden, der für die Tagesschicht die Werkzeuge aufbaute. Seit ich im Werk bin, hat man mich eigentlich immer gefragt: Willst du das oder das nicht machen? [...]
In unserem System ist etwas, was Leute, ganz verschiedene Leute, zu Trägheit erzieht. Echte Leistung findet weniger Anerkennung als die Scheinleistung. Es hat sich vielleicht so herauskristallisiert: Wir brauchen politisch bewußte Haltung, aber unter diesem Schirm sind viele Tiefflieger nach oben gekommen, die weder politisch noch fachlich was wert sind. Das Verhalten, das nötig ist, um die Norm dafür zu lernen, ist um so leichter zu bringen, je weniger einer eigene Bestimmtheit mitbringt. Vielen solcher Menschen bräuchte man nur das Abzeichen wegzunehmen, und sie würden keinen gebildeten Facharbeiter abgeben. Es wird zu sehr darauf geachtet, was die Leute sagen, statt darauf, was sie tun. „Ist der Kopf klar, arbeiten die Hände richtig“, heißt es. Aber schaut zuerst auf die Hände und schließt von da aus auf den Kopf, da werdet ihr meist ein besseres Urteil haben![...]
Ich habe viele Ideen, aber aufgrund meiner Funktion als Operativtechnologe komme ich nicht dazu. Und wenn ich doch daran gehe, kann ich sie nicht so anpacken, daß ein richtiger Erfolg dabei herauskommt. Wir stellen Kollektivgeist immer in den Vordergrund. Gegenüber dem westdeutschen Individualismus ist das richtig. Aber in unserer Praxis wird etwas ganz anderes draus: Unterscheide dich nicht von den anderen, störe die allgemeine Ruhe nicht! Es müßte doch möglich sein, die individuellen Fähigkeiten mit Hilfe des Kollektivs zu Spitzenleistungen zu fördern. Wenn jemand bestimmte technische Interessen hat und Verbesserungen und so weiter nicht verkommen lassen möchte, auch organisatorisch neue Vorstellungen hat, sollte er nicht durch Routinebelastung davon abgehalten werden. [...]
Im Kadereinsatz herrschen Routine und Stellenplan. Da kommt eine Fachschulabsolventin aus Fürstenwalde, die möchte Technologin werden. Nein, sie muß Dispatcher werden, da ist gerade ein Engpaß. Hinterher analysieren wir die Fluktuation. Eine andere Kollegin gelangte nur deshalb dorthin, wo sie wollte, weil sich die Partei schließlich für sie einsetzte. Wie soll die Arbeit zum Bedürfnis werden, wenn man auf einen Platz geschoben wird, wenn man nicht gefragt wird, wenn man mit seinen eigentlichen Fähigkeiten und Wünschen nicht gebraucht wird. Man denkt, wir haben einen großen Betrieb, viele, viele Arbeitsplätze für Ingenieure. Aber nach den Erzählungen der Alten war früher der kleine Fabrikant fähig, die Interessen seiner paar guten Leute auszunutzen. Vieles liegt an der Art, wie die Leute nach der Planerfüllung bewertet werden. Der Plan als Zwangsjacke – es wird dann auch eine freiwillige Ideologie daraus, um Unliebsames wegzuschieben. Da kommt ein Kunde mit einem Problem, er braucht für eine Rationalisierung tausend Teile, er bringt die Skizze oder sogar ein Werkzeug mit. Niemand macht sich die Mühe, den Mann überhaupt erst mal richtig anzuhören. Alles ausgeplant, keine Kapazität, hätten Sie voriges Jahr kommen müssen. Können wir nicht, haben wir nicht, geht nicht, aus. Keiner fragt, welchen Schaden richte ich mit meiner Ablehnung an? Für tausend Teile ist immer Kapazität da – wenn man will. Nur über persönliche Kontakte mit den kleinsten Mitarbeitern an der Basis kann so ein Mann noch was erreichen. Warum ist das so? Niemand hat das gesamtstaatliche Interesse im Auge, jeder nur seine Abteilung, sein Werk. Wenn dort alles nach Plan läuft, nach Plan vom vorigen Jahr, denn da ist er ausgearbeitet, ist er der Mann. Danach wird er beurteilt. Zumindest fällt er nicht auf. Für die Tausende Teile nebenbei – falls er die doch macht – lobt ihn niemand. Hat er sie aber drin, während zufällig gerade etwas anderes schiefläuft, eine andere Maschine ausfällt und der Monatsplan, gar nicht etwa der Jahresplan des Werkes, ohnehin wieder mal wackelt, bezieht er Dresche. Das ist überall so, und es liegt nicht an der Dummheit einzelner Leute. Die Wirtschaft ist so programmiert. Wenn ich aber zum APO-Sekretär [Abteilungsparteiorganisation der SED, d. Red.] gehe und darüber mit ihm reden will, spricht er nachher zu anderen darüber, daß ich vor 13 Jahren, 1961, unzuverlässig war. Aber die Mentalität der Planerfüllung hindert jeden Fortschritt. [...] Im September 1972 haben wir die Artikelzeichnungen für sechs Blaswerkzeuge nach Westdeutschland zu einem Auftraggeber geschickt, am 15. 1. 1973 standen die fertigen Werkzeuge zur Musterung hier, dabei noch zwei Werkzeuge, die für verschiedene Zwecke einsetzbar sind. Bei uns dauert das gleiche Unternehmen Jahre, und auf den langen Strecken werden Leute müde. Sie warten auf das Ergebnis ihrer vorigen Initiative, ehe sie die nächste anfangen. [...]
Es würde reichen, wenn man die Leute, die Lust haben, machen lassen würde. Aber ich habe mich gerade wieder verdächtig gemacht, mich zu sehr in westlicher Richtung zu interessieren – wo doch eine ganze Reihe westlicher Länder hier im Werk bei der Ausrüstung anwesend sind. Man hat Angst, daß sich unsere Leute ideologisch verkaufen. Nach meiner Ansicht ist diese Gefahr nicht mehr gegeben. Mir ist unvorstellbar, daß jemand unserer Generation für die Wiederherstellung der kapitalistischen Zustände wäre.
Fachschulingenieur, geb. 1941, Projektant eines Ingenieurbetriebes:
Obwohl die Arbeit derer, die Jahre früher Geld verdienten, nicht befriedigen würde – man braucht zehn Jahre, um zusätzlich zu erwirtschaften, was man durch Studium an Einkommen verloren hat. Einer der Dümmsten der Lehrklasse seinerzeit hatte bald 500–600 Mark, kam mit einer „Pannonia“ angefahren, ich dagegen begann nach Ingenieurabschluß in einem Forschungsinstitut mit 440 Mark. Wirklicher materieller Anreiz war kaum vorhanden, es sei denn für Leute, die gern was für Orden tun oder für Titel. Die eigentlichen Triebkräfte kriegen aber den Orden nicht und wollen ihn meist auch gar nicht, zumal die Schwemme die Orden entwertet. Mancher wieder weiß gar nicht, wie er dazu kommt. Wird zum Jahresende noch krasser werden, wenn die vorgeprägten Orden unters Volk gemischt werden.
Vorrangige Orientierung der Verhältnisse auf Verwaltungsränge gerichtet. Direktoren müssen Direktoren bleiben, und sei es dem Namen nach. So reduziert man keine Verwaltung, fördert man Ressortdenken und unqualifiziertes Mitreden.
Alle Reorganisationen der letzten Jahre haben in Richtung schö-pferischer Tätigkeit keinen Vorteil gebracht, eher Nachteile. Erfahrungen wurden brachgelegt. Leute, die schon zusammen auf Basis gegenseitiger Beziehungen arbeiteten, wurden auseinandermanövriert. Wenn man überall auf Unbekannte stößt, mit denen man erst warm werden muß, leidet die Kooperation, verlängern sich die Bearbeitungszeiten. Wir hören auch oft: Dieses oder jenes Sortiment machen wir nicht mehr, machen jetzt die und die Konsumgüter. [...]
Die politische Führung braucht nur einen Gedanken zu äußern – z.B. den richtigen Gedanken, mehr für die Versorgung der Bevölkerung zu tun –, schon ist es für sehr viele strebsame Leute Gesetz, auf Teufel komm raus ihre Bereitwilligkeit zu demonstrieren. Die Gedanken werden durch so viele Institutionen parallel und konzentrisch interpretiert, daß am Ende nichts anderes mehr übrigbleibt, als unabhängig von der ökonomischen Vernunft im Detail mitzumachen.
Diplomingenieur, geb. 1938, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung eines Betriebes:
Ich wollte nach der TU in die betriebliche Forschung. Hier bin ich jetzt acht Jahre, habe hier die Stunde Null der Forschung für eine neue Technologie miterlebt, für eine in der DDR neue freilich nur. Ich bin mit der Abteilung groß geworden. Ich habe viele Fehler gemacht und Dresche bezogen, weil ältere Mitarbeiter fehlten, die einen menschlich und fachlich zuweilen hätten leiten können. Die Behandlung, die man erfährt, wenn man Fehler macht, hat oft kein Niveau, erfolgt routinemäßig, ohne menschlichen Anteil. Man bildet sich noch was ein auf diese „Sachlichkeit“. Das passiert auf dem Hintergrund des allgemeinen Betriebsjargons, den ich als zu wenig gemeinschaftlich empfinde. Ich bin in meinem Wesen kein harter Mann, was ich habe, ist Energie, Ausdauer, Fleiß, ist ein gewisser Ehrgeiz, uns dem Westen nicht unterlegen zu zeigen in der Technik. Es gehört eine gewisse ideologische Grundhaltung dazu, den fachlichen Stolz eingeschlossen, den eigentlich die Hochschule mir mitgab. Man darf nicht anspruchslos sein. Trotz widriger Umstände hat mich die Praxis nicht enttäuscht. Ich hatte natürlich Glück mit diesem jungen Industriezweig, daß ich nichts Fertiges vorfand, das ich nur noch anzueignen und weiterzuführen gehabt hätte. Ich bleibe hier, soweit ich absehe. Gerade in dem Maße, wie ich mich hier höher qualifiziert habe und größeren Anteil hatte, habe ich mich auch mehr verpflichtet gefühlt. Gut ist, wenn sich die Betriebsleitung stabilisiert und wenn sich dadurch der Betrieb profiliert. Mit einer gefestigten Betriebsleitung, die korrekt ihr Bestes gibt, kann die übergeordnete Leitung nicht ohne weiteres Schach spielen. Dauernder Wechsel oben ist nicht gut. Es ist nicht gut, wenn einer schon weiß oder ahnt, das überlebst du nur drei Jahre, diese Funktion. Er denkt dann immer schon, wie er davonkommt für später.
Der Realität muß man ins Auge sehen: Unsere Tätigkeit in der Forschung ist Nachahmen von Technologien aus dem westlichen Ausland mit wesentlich primitiveren Mitteln. Der letzte Wichs fehlt uns immer, weil wir uns zu sehr strecken müssen. Das kann trotzdem Zufriedenheit ergeben: wenn wir dennoch den Zweck erreichen. Auf die Dauer ermüdet es freilich doch, immer nur nachzuentwickeln, denn wir sind keine schlechteren Ingenieure. Die Voraussetzung, auch mal vorn zu sein, wäre, daß wir die Produktion nicht länger zum Fetisch machen, ich meine: den Ausstoß, immer wieder den Ausstoß, die Warenproduktion. Immer wieder erklärt man das Gegenteil, aber wir kommen nicht los davon. So fehlt einfach der betrieblichen Forschung die proportionale materielle Basis (Labor, Technikum – wir haben keins). Hinzu kommt: Im Westen bietet der Maschinenbau, im Rahmen der Konkurrenz um den Profit, von sich aus neue Technologien, Verfahren an. Dort ist er der Verarbeitung voraus. Hier müssen wir händeringend betteln gehen, daß sie uns was bauen, was wir, darin technisch nicht Meister (wir wissen nur technologisch, was wir wollen), haben wollen. Das tötet allmählich den Wunsch nach neuen Patenten.
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