: Gut gemeint, ist das Gegenteil von gut
■ betr.: „Liebe für das Gute an sich“, taz vom 29. 1. 96
Liebe Frau Niroumand, ich schätze Ihre Filmkritiken außerordentlich, davon verstehen Sie wirklich was. Aber wie sagte doch ein bekannter österreichischer Philosoph, der wegen der Nazis in England blieb: Worüber man nicht reden kann, darüber muß man schweigen (Wittgenstein).
Sie wollen sich sicher in die Phalanx derjenigen einreihen, die „enttabuisieren“ wollen, worunter neu- und treudeutsche Sozialdarwinos den „gepflegten Stammtisch“ verstehen. Ich verstehe ja Ihre Motive: Sie wollten etwas gegen die political correctness unternehmen, oder was Sie darunter verstehen. Gestern hat der französische Wissenschaftshistoriker Serres ein Hörfunkinterview gegeben. Er meinte: Die „politische Korrektheit“ führe letztendlich zum Kampf aller gegen alle, weil jede/r sich in irgendeiner „Minderheit“ wähne. Aber weil Sie wider den Stachel löcken wollten, Frau Niroumand, sind Sie in eine Falle gegangen: Korrekter als korrekt, das kann nur in reaktionären Fahrwassern landen.
Leider hat die bürgerlich-ideologische „Info-Elite“ nur eines aufzubieten: jede Menge Meinung, aber von nix 'ne Ahnung. Noch 'nen kleinen Sozialabbau gefällig? Für die notleidenden Millionäre mit der Sammelbüchse rumgehen?
Ein kleiner Ausflug in die Historie, Frau Niroumand: Die meisten weißhäutigen Australier sind Nachfahren krimineller Engländer, die von der Krone nach Australien verbannt wurden. Und im schönen Hessenland starben im letzten Jahrhundert ganze Landstriche aus, weil verarmte Bauern, Tagelöhner, Glücksritter und Gauner aller Couleur nach Nordamerika gingen, um dort ihrem „pursuit of happiness“ nachzukommen. Auch unter den heutigen „AsylantInnen“ sind viele Glücksritter, Gauner, Abenteurer aller Couleur. Wundert Sie das? Das sind halt auch nur Menschen, keine Edel- oder Untermenschen, wie der deutsche Herren- oder Gutmensch sie sich wünscht.
Was sind „halbwegs brauchbare Unterkünfte“, Frau Niroumand? Jedenfalls sind die in letzter Zeit auffallend häufig abgebrannt, nicht nur in Lübeck, und nicht nur wegen offenkundiger Brandstiftung. Wer sperrt Menschen unterschiedlichster Herkünfte auf engstem Raum in heruntergekommene Behausungen und wundert sich über das Ergebnis? Etwa die Heinzelmännchen?
Liebe Frau Niroumand, auch ich hege „links-franziskanische Armutsideale“ und gehe von der „Mär“ aus, daß „wir“ (wer ist wir?) auf anderer Leute Kosten reich sind. Wer ein Pöstchen und Salär hat, der richtet sich darauf ein, na klar, gnädige Frau. Aber das ist noch lange kein Grund, offenkundigen bourgeoisen Unsinn zu erzählen: 20 Prozent der Weltbevölkerung verprassen 80 Prozent des Welteinkommens, 25 Prozent verbrauchen 75 Prozent der produzierten Weltenergie. Ein Durchschnittsamerikaner verbraucht dreimal soviel Energie wie ein Europäer, und der 90mal soviel wie ein Bewohner von Bangladesh. Apropos Bangladesh: Eine Textilarbeiterin dort verdient bei einer 84-Stunden-Woche (siebenmal zwölf) umgerechnet 45 Mark im Monat. Durchschnittliche Produktions- und Transportkosten eines in Bangladesh produzierten Hemdes: sechs Mark. Und Sie kaufen es dann für 40 Mark im Geschäft, Frau Niroumand, Und fühlen sich yuppihaft wohl dabei.
Ihren Pragmatismus in Ehren, Frau Niroumand, aber schreiben Sie nächstens über Dinge, von denen Sie wirklich was verstehen. Die Zeitungen sind bereits voll genug mit karrieregeil-opportunistischen „Enttabuisierern“. Andere nennen sie auch „Troubadoure des Kapitals“ (laut Le Monde Diplomatique). Kurt-Werner Pörtner,
Rüdesheim/Rhein
Gut gemeint war der Kommentar von Mariam Niroumand sicher, und so hat er auch begonnen. Zum Ende hin verliert sich der Sinn darin, daß sie die FAZ und die Zeit liest. Nur mittendrin kommt ein kleiner Zweifel auf, ob die Autorin noch gut meint – was zwar das Gegenteil von gut ist, aber immerhin noch besser als: „... noch immer lebt die Mär, wir seien auf ihre Kosten reich“.
Irgendwie sind die Ausländer gemeint, die als Flüchtlinge hierherkommen. Frau Niroumand sollte mal in Eurer Ökonomieredaktion vorbeischauen. Vielleicht hat sie auch die Zeit, eine Lehrveranstaltung bei Elmar Altvater zu besuchen. Nötig hat sie es. Oder wird jetzt wieder „ein Tabu gebrochen“? Etwa so: Sollen die in der Dritten Welt sich nicht so anstellen. Zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse reichen die von uns gezahlten Preise allemal. Wenn höhere Preise gezahlt würden, kämen die doch nur auf die Idee, sich Autos und sowas zu kaufen. Und das wäre doch unökologisch. Richard Kelber, Dortmund
[...] Schön wäre es ja, wenn die Wirklichkeit so „schlicht und ergreifend“ wäre, wie Niroumand suggeriert. Dagegen – jede(r), auch Niroumand, weiß das – handelte es sich in Lübeck um ein Haus, in dem sehr viele und sehr verschiedene Menschen unter Verhältnissen lebten, wie sie die meisten „Deutschen“ nicht einmal vom Hörensagen kennen. Sollte das mit dem Tathergang gar nichts zu tun haben? Der Besitzer hat sich eine goldene Nase dran verdient. Zumindest die Anzahl der Toten liegt ursächlich an der Massenunterbrin„gung durch deutsche Behörden und Verbände. Insofern beinhaltet Niroumands Plädoyer für die schlichte Wahrheit des „kriminellen Ausländers“ eine Absage an ein Denken in Strukturen, durch welches sich die Hintergründe der Lübecker Ereignisse noch am ehesten verstehen lassen. [...]
Richtig ist hingegen ihre Kritik am paternalistischen Umgang mit Flüchtlingen. Gleich darauf zaubert sie in einer geradezu atemberaubenden Argumentationskapriole aus der „Identifikation mit dem Wahren und Guten“ sowie einer angestrebten „porentiefen Reinheit“, die sie zu Recht oder Unrecht als Kontinua der deutschen Seele entlarvt, die Unmöglichkeit, den „pragmatischen“ Staat wegen der Ereignisse in Lübeck zu kritisieren. Mit der „Vernunft“, die Niroumand am Ende ihres Kommentars einfordert, hat das nicht allzuviel zu tun. Georg Rohde, Berlin
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