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Die Skandal-Chronik des Atomkraftwerks Obrigheim

Mitte der 60er Jahre: Der Druckwasserreaktor Obrigheim (KWO) wird als erstes kommerziell nutzbares Atomkraftwerk mit einer elektrischen Nettoleistung von 240 Megawatt (MW) konzipiert. Während der Errichtung führen Änderungen am Reaktorkern zu einer Leistungssteigerung auf 283 MW. Später wird weiter frisiert: auf 340 MW.

1968: Inbetriebnahme eines Reaktors, der nach den Ergebnissen des Untersuchungsausschusses im Stuttgarter Landtag erheblich von den genehmigten Planungen abweicht. So beträgt die Soll- Wandstärke des Reaktordruckbehälters nach einem Werkstoffwechsel nur noch 160 statt zuvor 190 mm. Die Ist-Wandstärke liegt teilweise noch deutlich darunter (etwa 156 mm).

1976: Acht Jahre nach Betriebsbeginn ist der Stahlbehälter schon so hoch verstrahlt, wie er am Ende seines Lebens nach 40 Jahren sein sollte – eine Folge der Leistungserhöhung. Mit Dummy- Brennelementen aus Stahl in den Außenzonen des Reaktorkerns sollen die versprödungsanfälligen Stahlwände abgeschirmt werden. Trotzdem ist ihre Strahlenbelastung heute fast doppelt so hoch, wie ursprünglich geplant.

1987: Recherchen der Grünen im Stuttgarter Landtag fördern zutage, daß KWO 19 Jahre nach der nuklearen Inbetriebnahme ohne Dauerbetriebsgenehmigung läuft. Die CDU-Alleinregierung in Stuttgart stört das nicht.

Mai 1990: Der baden-württembergische Verwaltungsggerichtshof erklärt den Betrieb von KWO für illegal, Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) knipst das Kraftwerk aus.

Juni 1991: Das Bundesverwaltungsgericht in Berlin fällt ein durch seine Logik bestechendes Urteil: Zwar sei eine Dauerbetriebsgenehmigung notwendig, bis dahin könne der Altreaktor jedoch im Probebetrieb weiterproduzieren, da im Gesetz nicht festgelegt sei, wann ein solcher Versuchsbetrieb ende. Im August geht KWO wieder ans Netz.

August 1992: Der wenige Monate zuvor ins Amt gekommene Umweltminister und Atomkraftgegner Harald B. Schäfer (SPD) gibt nach 24 Jahren „grünes Licht“ für den Dauerbetrieb und verbindet die Entscheidung mit Sicherheitsnachweisen, die die Betreiber erbringen sollen, während das Kraftwerk weiterläuft. Als Gutachter schaltet Schäfer neben dem TÜV-Baden auch die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) und das Öko-Institut ein.

Februar 1994: Mit den Stimmen von Bündnisgrünen und FDP konstituiert sich in Stuttgart ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß, der Vorwürfe aus dem Ministerium selbst prüfen soll, wonach das Kraftwerk „anders errichtet als genehmigt“ wurde.

Ende 1994: Alle drei von Schäfer eingesetzten Gutachter sind der Überzeugung, daß die KWO- Betreiber die geforderten Sicherheitsnachweise, die Ende 1993 vorliegen sollten, noch nicht erbracht haben. Das Kraftwerk bleibt trotzdem in Betrieb.

März 1995: Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof kassiert Schäfers „Dauergenehmigung“. Er hätte erst prüfen und dann genehmigen müssen, meinen die Richter. Der Minister legt umgehend Revision beim Bundesverwaltungsgericht in Berlin ein. KWO läuft weiter – jetzt wieder im „Probebetrieb“.

Sommer 1995: Nach einer detaillierten Untersuchung des Versprödungszustands des Reaktordruckbehälters läßt Schäfer die Anlage wieder anheizen und erklärt sie – unter dem Beifall der Atomwirtschaft und des Koalitionspartners CDU – für „sicher“. Das Öko-Institut und Greenpeace widersprechen dem Sicherheitszertifikat.

8. Februar 1996: Abschlußdebatte über die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses. CDU und SPD verkünden: „Obrigheim ist sicher“ und in der Genehmigungsbehörde alles paletti.

Später: Der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof knipst das Kraftwerk erneut aus. Begründung: Der Meiler wurde anders errichtet als genehmigt. Die Folge ist ein andauerndes und nachträglich kaum zu heilendes „Ermittlungs- und Bewertungsdefizit“. gero

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