Sie haben einen schlechten Ruf: diebisch und geizig, gefräßig und geil - Raben. Auf einer Wiese liegt ein Lamm, zerhackt, im eigenen Blut. Unter Verdacht: der krächzende Vogel. Klar, daß er vor den Kadi gezerrt wird. Doch könnte der Täter n

Was ist das für ein Vogel, der hier, ganz in schwarz, auf den Fluren des Garmischer Landgerichts auf und ab schreitet; der dabei ständig wackelt und eine merkwürdige, fast lächerliche Würde zelebriert?

Was ist das für ein Vogel, der sich – obwohl Beschuldigter – plaudernd in Gespräche mischt, zweifellos kenntnisreich, immer charmant, aber nie ohne belehrenden Unterton?

Was ist das für ein Vogel, der für den Tod steht, der Hexenhäuser hütet, als Vasall ruppigen Räubern gefällt. Der mit seinem Fluge Orakel speist, von Krankheit, Glück und Armut kündet?

Murnau/Oberbayern, früh im Januar: Ein Trupp junger Kolkraben verläßt gegen 16 Uhr die städtische Müllkippe, schwingt sich auf nach Osten in die Dämmerung, zum 15 Kilometer entfernten Schlafplatz. Zu einem dieser versteckten Täler im tiefverschneiten Estergebirge.

Plötzlich, etwa auf halbem Wege, sinkt die Schar im Gleitflug auf Wipfelhöhe, geht nieder auf Eichenäste, guckt runter. Scheinbar nur so. Unten aber weidet eine Schafherde. Und zwei Tiere stehen etwas abseits, hinten die Beine leicht eingeknickt.

In die Dämmerung hinein werden zwei Lämmer geboren. Eines bleibt liegen, vom Mutterschaf kaum beachtet, in sich gekrümmt, regungslos. Ein Bild des Jammers – im Visier des Raben. Stunden später findet es Schäfer Rainer, tot, aufgebrochen, in seinem Blute verendet.

Für die Staatsanwaltschaft ein klarer Fall: Der Rabe war's. Name: Huckebein, Hans. Stunden nach der Tat gestellt, heute vor dem Kadi. Alter: zwei Jahre, keine Vorstrafen, zuletzt Chef einer Jugendbande.

Die Anklage: „H.H. wird beschuldigt, ein Lamm in der Nähe des Murnauer Müllplatzes angegriffen und durch fortgesetztes Hacken auf die Schädelplatte getötet zu haben.“

Hans wiegt sanft den Kopf, sein Körper folgt dabei dem Schnabel, mal nach rechts, mal nach links: „Wenn unsereins ein Lamm tötet, und ich habe es in diesem Falle nicht getan, dann höchstens in seiner Funktion als Sterbehelfer und Aasverwerter. Wobei der Kollege dann ausschließlich den Weisungen seines Instinkts folgt – Gott weiß warum.“

Galant schwingt Hans den rechten Flügel zur Anwaltschaft, spreizt dabei die Federn: „Bitte, was ist der Unterschied zwischen einer Rabenkrähe und einem Kolkraben?“ Wieder ist es dieser leise Charme, mit dem Huckebein nun auf einen möglichen Irrtum seitens des Zeugen hinweist.

Tatsächlich lungerten an jenem besagten Abend weit mehr Krähen als Raben am Rande der Weide. Und obwohl Raben wesentlich größer sind, gleichen sie doch vehement ihren Verwandten. Gut, ein Experte würde den Unterschied erkennen. Aber ein Schäfer, noch dazu in der Dämmerung?

Als Sachverständige in diesem Verfahren ruft das Gericht Frau Geiersberger. Sie arbeitet bei der Vogelwarte in Garmisch, sie forscht seit Jahren nach der Seele der Raben: Weiß, wie sie aufwachsen, wie sie lernen und leben. Und, was hier von größtem Interesse ist, sie weiß von der Aufgabe der Raben draußen in freier Natur.

Hans stammt aus gutem Elternhaus. Als Nachwuchs renommierter Revierraben wächst der Kleine mit drei weiteren Geschwistern in einem über 200 Jahre alten Horst heran. Nach etwa sechs Monaten, Hans hat nun Gewicht und Statur eines erwachsenen Raben, verläßt er das zehn Quadratkilometer große Territorium seiner Eltern. Er schließt sich einem dieser Jugendverbände an, typisch für einen Raben seines Alters. Dort verbringt er die nächste Zeit, so eineinhalb Jahre – bis zu seiner Festnahme.

An pubertierende Menschen erinnere das Verhalten dieser Jungvögel, sagt die Gutachterin. „Tagsüber trifft man sich an der Müllkippe, haut sich mit Junk food den Bauch voll, kräht ein paar Takte, putzt sich zwischendurch. Und wenn es langweilig wird, zieht man los, macht eben einen drauf, nie sonderlich weit von der Kippe weg.“

Einen draufmachen, das kann Spiel sein. Etwa fliegen auf Teufel komm raus, im Sturz hundert Meter tief – Saltos mit angelegten Flügeln inbegriffen. Das können Purzelbäume von Berggipfeln runter ins Tal sein. Das kann der Versuch sein, Stapel von Hölzern im Fluge zu transportieren – bis sie dann doch aus dem Schnabel rutschen. Und wenn sich ein paar aufmachen, einem Kumpel ein paar Federn zu ziehen, dann ist das auch noch Spaß.

Mut, Geschicklichkeit und soziales Verhalten, das sollen die jungen Raben in diesen Gruppen lernen. Als Rüstzeug für die nächsten 30 Jahre, die sie monogam im eigenen, hektarweiten Revier leben werden.

Aus Sport, Spiel, Spannung kann aber auch Ernst werden. Blutiger Ernst. Schlimmes Ende jugendlichen Übermuts oder kalt kalkuliertes Profilierungsgehabe? Versuchte Hans, sollte er an diesem Abend tatsächlich Täter gewesen sein, einer Rabin zu imponieren? Hat er sich als erster (und somit als vermeintlich Mutigster) vom Eichenwipfel gleiten lassen, um sich dann vorsichtig – Schritt für Schritt – dem Mutterschaf zu nähern? Hat er begonnen, die Fontanelle am Kopf des Lamms mit seinem Schnabel aufzubrechen?

Jahrhunderte waren Raben Gegenstand ausführlicher Feldforschung. Schon immer standen sie im Verdacht, zu klauen, zu lügen, zu betrügen und auch zu töten. Undankbar sollen sie sein, geizig, gefräßig, diebisch und geil dazu.

Noch einen obendrauf setzt Konrad von Megenburg anno 1350. In seinem „Buch der Natur“ berichtet der Adelsmann von Raben, die ihre Jungen aus dem Nest würfen. „So falsch wie die daraus resultierenden Begriffe Rabenmutter oder Rabenvater“, sagt dazu Frau Geiersberger. Sie attestiert Rabeneltern ein pädagogisches Händchen, gepaart mit vorbildlichen Versorgungsleistungen.

Manchmal schon grotesk, welche Vorurteile sich noch über Jahre halten konnten. Da wird freiweg behauptet, der Rabe sei das einzige Tier, das während der Christnacht schläft. Und die Menschheit glaubt's. Dann soll der Vogel noch das Feuer nordamerikanischer Indianer geraubt und sich dabei verbrannt haben. Noch dazu sei das Fleisch der Tiere schwarz und giftig.

Nach diesem letzten Satz sträuben sich Bart- und Nackenhaare des Angeklagten: „Und Raben überm Haus schaffen Zank. Fliegen drei übers Dach, verfault was. Sitzen sie auf dem Dach, wird jemand krank. Ziehen Raben über einen Leichenzug, so ist der Tote unselig gestorben. Ein Rabe zur See bedeutet Glück, zwei Sturm, drei den Tod. Und: Fliegt der Rabe falsch, dreimal auf den Boden spucken, dann wendet sich das Unglück.“

„Bittschön“, schnarrt Hans nun nüchtern, „was soll der ganze Quatsch?“

Rabenopfer Rainer, der Schäfer aus Garmisch, sagt zur Sache soviel: „Die Viecher sind meistens in Scharen gekommen, morgens oder abends, haben sich dann in die Bäume gesetzt und blöd dreingeschaut. Und auf einmal war wieder ein Lamm hin.“

Nein, richtig dabeigewesen sei er nie, meistens erst kurz nach der Tat dazugekommen. Ob es eine Krähe oder ein Rabe war – „jo mei, schwarz waren's und groß“. Und dann sagt Schäfer Rainer noch diesen Satz, der die anwesenden Landwirte hier im Saal applaudieren läßt: „Am besten würd' wohl wirken, wenn man einen einfangen und verdreschen tät'. Damit sich rumspricht, daß bei uns net gut vespern ist. Oder man knallt die Raben ab, einen nach dem andern.“

Der Schäfer steht mit seiner Forderung nicht alleine. Die Anklage stützt sich auch auf Erkenntnisse des Zoologen Alfred Edmund Brehm. Der Forscher notierte 1834 in sein „Tierleben“: „Der Rabe hackt im Frühjahr die neugeborenen Lämmer todt und verzehrt sie, verjagt die Eidergänse vom Nest, säuft ihre Eier aus, verbirgt diejenigen, die er nicht fressen kann, einzeln in der Erde. Selbst auf Opfer, die Wunden und Beulen haben, setzt er sich und hackt sie an, so daß sie ihn nur unter Wälzen loswerden können ... Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Kolkrabe durch seine Raubsucht sehr schädlich wird und von verständigen Menschen nicht geduldet werden darf.“

Gleichzeitig aber, und dieses wichtige Kapitel findet in der Anklage keinen Platz, schreibt Brehm: „Der Rabe ist einer der klügsten aller Vögel ... Man findet ihn nur an spärlich bewohnten Orten unseres Vaterlandes. Gegen die Grenzen unseres Erdteils hin lebt er in besseren Verhältnissen ... höchst wahrscheinlich deshalb, weil der Mensch jener Himmelsstriche nicht so ausgesucht boshaft jede seiner Vergnügungen und Handlungen bemäkelt und richtet.“

Wie sieht die Situation heute aus? Frau Geiersberger schätzt die Zahl der Rabenpaare im gesamten bayerischen Alpenraum auf höchstens noch 500, nachdem sie jahrelang abgeknallt wurden, „so richtig niederträchtig von unten mit der Schrotflinte rein in die Horste, damit auch gleich die Kleinen mitkrepierten“.

Jetzt, wo diese wunderbaren Vögel geschützt seien, schüre die Jägerschaft Hetzkampagnen. Mit dem Riesenerfolg, daß der Rabe mittlerweile eine miserable Presse hat, „graue Vorzeichen für eine düstere Zukunft“. Frau Geiersberger verweist dabei auf Berichte in Zeitungen, die den Raben unisono zum gemeingefährlichen Galgenvogel stempeln.

Dem Gutachten folgen ausführliche Plädoyers, danach zieht sich das Gericht zur Urteilsfindung zurück. Verteidigung wie Staatsanwaltschaft haben zuvor nochmals ihre konträren Standpunkte ausgebreitet. Das unschuldige Lamm, so der Ankläger, sei Opfer eines pathologisch freß- und geltungssüchtigen Rabenhalbstarken. Und eines durchtriebenen Halunken, der vor nichts zurückschrecke, so richtig ein Typ aus Hitchcocks Klassiker „Die Vögel“.

Strafmildernde Umstände sah der Staatsanwalt keine, er plädierte für eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren.

„Einen Freispruch auf ganzer Linie“ hingegen forderte die Verteidigung. Der Angeklagte sei als Täter nicht identifiziert worden. Ein Landmann, der die Krähe nicht vom Raben unterscheiden könne, sei kein verläßlicher Zeuge, schon gar nicht bei einbrechender Dunkelheit. Außerdem würde „ein gesundes Mutterschaf, das ein gesundes Junges zur Welt bringt, jedem Raben jeden Röhrenknochen seines Körpers brechen“. Schon dieser Umstand müsse zu denken geben.

Die Tür zum Saal öffnet sich, dann wird es still. Das Gericht, voran dessen Vorsitzender, verkündet im Namen des Volkes folgendes Urteil: „Der Angeklagte wird freigesprochen. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse.“

Huckebein schaut rüber zur Verteidigung, wischt sich verstohlen frohe Tränen der Erleichterung aus den schwarzen Augen, nimmt dann, wie der Rest der Anwesenden, Platz.

Das Gericht folgt in seiner Entscheidung hauptsächlich den besonnenen Worten der Sachverständigen. Nach wie vor bestünden „erhebliche Bedenken“ an der Täterschaft des Raben. Dies allein würde schon für einen Freispruch – in dubio pro bio – genügen. Sollte Huckebein tatsächlich an der Tat beteiligt gewesen sein, so anerkannte hier das Gericht dessen regulierende und aasverwertende Funktion innerhalb des Naturkreislaufes. Er, Huckebein, habe somit – wenn überhaupt – nur eine, ihm von Gott aufgetragene Pflicht erfüllt.

Die Sitzung ist damit geschlossen.

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Nachtrag aus Murnau/Oberbayern, Ende Januar: Ein Trupp junger Kolkraben sinkt im Gleitflug auf halbem Wege zum 15 Kilometer entfernten Schlafplatz auf Wipfelhöhe, geht nieder auf Eichenäste und guckt runter auf weidende Schafe – ein Tier steht abseits, die Beine leicht eingeknickt.