: Taschenmesser für Frau Pfeifers Söhne
Gila Lustigers „Bestandsaufnahme“ eines Alltags vor dem Abgrund ■ Von Susanne Heim
Helga Pfeifer hat für ihre praktischen Vorschläge zur Verlängerung der Lebensdauer abgetragener Pullover den zweiten Preis im Wettbewerb einer Frauenzeitschrift gewonnen. „Königin der Wiederverwertung“ ist sie damit zwar nicht geworden, aber immerhin! Ihre Söhne, die eigentlich gerne Taschenmesser gehabt hätten, wissen auch das Fernglas zu nutzen, das die Mutter von dem gewonnenen Geld anschafft. Sie beobachten den schwulen Nachbarn, der gerade Herrenbesuch hat – was zu einer Anzeige und zur Verhaftung des Nachbarn und seiner Gäste führt. Damit ihre „strammen Buben“ doch noch zu den ersehnten Messern kommen, wendet sich Frau Pfeifer schließlich, unter Verweis auf ihr Engagement im Reichsmütterdienst, an die Behörde: Sie habe erfahren, daß man von der Ghettoverwaltung beschlagnahmte Gegenstände zu reduzierten Preisen erwerben
könne ...
So ungefähr könnte man zwei der mehr als 30 Episoden zusammenfassen, die Gila Lustiger in ihrem Roman „Die Bestandsaufnahme“ miteinander verwoben hat. Die meisten Geschichten beginnen scheinbar harmlos. Irgendwann mischt sich in die ironische Beschreibung der Widrigkeiten und Banalitäten des täglichen Lebens, der persönlichen Schwächen und Hoffnungen der Akteure, etwas Beklemmendes, bis schließlich hinter Familienidyll und Alltag der Abgrund sichtbar wird: Verhaftungen und Folter, Vertreibung, Zwangssterilisation und Deportation in den Tod. Die Bestandsaufnahme ist eine Liste beschlagnahmter Wertgegenstände aus dem Besitz ermordeter Juden. Uhren, Schmuck, Briefmarkensammlungen, Zahngold und eben auch Taschenmesser wurden gestohlen, sortiert und aufgelistet, um sie anschließend an verdienstvolle Seelen wie Frau Pfeifer neu verteilen zu können. Gila Lustiger erzählt ein Stück deutscher Geschichte anhand dieser Gegenstände; dabei werden die Dinge meist nur beiläufig erwähnt, im Vordergrund stehen Menschen, denen sie etwas bedeuten – sei es aufgrund von Erinnerungen oder Habgier. Der Roman beginnt in den zwanziger Jahren mit dem hoffnungsvollen Aufbruch einer jungen Frau aus der Provinz in die Hauptstadt Berlin und endet in Auschwitz. Die Jahre, die dazwischen liegen, Machtübernahme, Nürnberger Gesetze, Novemberpogrome und Krieg prägen die Chronologie des Romans. Die Autorin hat diese Zeit, anders als der Titel vermuten läßt, nicht selbst durchlebt. Gila Lustiger ist Anfang 30, in Frankfurt geboren, hat in Jerusalem studiert und lebt heute als Journalistin, Lektorin und Übersetzerin mit Mann und Kindern in Paris. Kein autobiographischer Roman also, sondern einer, der die Erfahrungen der Generation ihres Vaters beschreibt, der selbst Überlebender von Auschwitz ist. Die Ereignisse, die sie in ihrem Roman schildert, beruhen auf historisch belegten Tatsachen. Viele Personen seien frei erfunden, schreibt Lustiger in einer Vorbemerkung. Ihr Schicksal aber ähnelt dem tausend anderer. Neben den vielen fiktiven Personen gibt es auch einige „reale“ Täter, deren Biographien in der Holocaust-Literatur nachzulesen sind und deren Psyche Lustiger im Roman lebendig werden läßt. Sie wolle „verstehen lernen, ohne zu (ver)urteilen“, schreibt der Verlag dazu. Ein Satz, der genauso irreführend ist wie der Einwand, den sie auf der Frankfurter Buchmesse zu hören bekam. Ihre Sprache sei nüchtern und „teilnahmslos“. Nichts ist hier teilnahmslos, auch wenn auf plakative Wertungen verzichtet wird. Distanz und Ironie sind Zuflucht, um überhaupt beschreiben zu können, was sich dem Nachempfinden entzieht. Es gibt keine säuberliche Aufteilung der Welt in Gut und Böse. Zwischen Opfer und Täter mischen sich Denunzianten, Profiteure, Feiglinge und Ahnungslose, die in der nächsten Episode schon selbst wieder zu Gejagten werden können. Die Randfiguren eines Kapitels treten im anderen ins Zentrum des Geschehens und umgekehrt die Hauptpersonen in den Hintergrund. Lustiger läßt ihre Personen an der Leserin vorbeiziehen, führt sie vor, so daß sie sich selbst zu entlarven scheinen.
Mit der Geschichte der Opfer und den Spuren, die die Vernichtung des europäischen Judentums in ihrem Leben hinterlassen hat, ist die Autorin seit ihrer Kindheit konfrontiert. Und doch gelingt ihr der Perspektivenwechsel mühelos. Wenn sie sich in den „arischen“ Jungen hineinversetzt, der den jüdischen Mitschüler triezt, klingt das genauso authentisch wie der Brief, in dem der deutsche Familienvater im „Osteinsatz“ seine Mörderarbeit mit den Hausaufgaben seines Sohnes vergleicht und sich treusorgend nach dem Wohlbefinden der Lieben daheim erkundigt.
Lachen und Verzweiflung liegen dicht nebeneinander. Lustigers Ironie ist manchmal liebevoll, dann wieder schonungslos bissig, oft sarkastisch, ohne je zynisch zu werden. Diese Sprüche und die Genauigkeit der Beobachtungen sind es, die den Roman – trotz allem – auch witzig machen. Das Lachen, das er provoziert, bleibt nicht jäh im Halse stecken, aber es vergeht, wenn am Schluß die meisten Romanfiguren tot und alle Überlebenden entweder gebrochen sind oder ihnen die Verlogenheit zur zweiten Natur wurde.
Gila Lustiger: „Die Bestandsaufnahme“. Aufbau Verlag 1995, 336 Seiten, 36 DM
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