: Jugendarmut - betr.: "Mehr gezählt, mehr aufgeklärt", taz vom 1.2.1996
Betr.: „Mehr gezählt, mehr aufgeklärt“, 1. 2. 96
Die steigende Kriminalitätsrate besonders bei Minderjährigen in Hamburg ist erschütternd. Dabei kommt diese Entwicklung keineswegs überraschend: Bereits seit Jahren hat unsere Organisation in regelmäßigen Abständen auf zunehmende Gewaltbereitschaft und sinkendes Unrechtsbewußtsein bei den Kindern und Jugendlichen in unserer Stadt hingewiesen. Doch mit unseren Warnungen verfuhr man stets wie mit der Veröffentlichung der neuesten Kriminalitätsstatistik. Man nahm zähneknirschend zur Kenntnis, daß das Kind in den Brunnen gefallen ist – und ging anschließend zur Tagesordnung über.
Parallel zur steigenden Jugendkriminalität ist ein dramatischer Anstieg der Jugendarmut in Deutschland zu beobachten, ja fast schon eine Verlagerung der Armut vom Alter zu den Jungen. Dies ist natürlich kein Zufall: Sozialforscher und Kriminologen weisen schon seit langem darauf hin, daß Gewaltbereitschaft verstärkt dort auftritt, wo soziale Ausgrenzung erfolgt. Denn schließlich leben wir mittlerweile in einer gespaltenen Gesellschaft: Auf der einen Seite der Nachwuchs, der von seinen Eltern verwöhnt wird, der sich (fast) alles leisten kann. Und auf der anderen Seite die Freunde, Nachbarn und Klassenkameraden, die nur neidisch zuschauen können, weil ihre Eltern arbeitslos sind oder von Sozialhilfe leben. Die Bedürfnisse, die unser konsumorientierter Alltag mit Werbespots und Zeitschriftenreklame natürlich auch bei ihnen weckt, können nicht befriedigt werden. Hinzu kommen oft bereits vom Säuglingsalter an fehlende Liebe und Zuneigung seitens ihrer Eltern. Die Folgen erscheinen da fast logisch: Die Kinder fühlen sich ausgestoßen, ausgegrenzt, alleingelassen – und nehmen sich einfach, was sie sonst nicht bekommen.
Insofern erscheint ein bloßer Ruf nach mehr Polizei jetzt völlig unangebracht. Stattdessen ist unsere Gesellschaft am Zuge. Schließlich sind unsere Kinder doch so, wie wir Erwachsenen sie geformt haben. Wir haben sie unter falschen sozialen Rahmenbedingungen aufwachsen lassen. Wir haben ihnen zu wenig Zuwendung und Zärtlichkeit gegeben. Wir haben ihre Freizeitmöglichkeiten arg beschnitten. Nun müssen wir uns in gesellschaftlicher Integration üben, damit nicht weiterhin aus gefährdeten Kindern und Jugendlichen gefährliche Erwachsenen zu werden drohen.
Wolfgang Lütjens, Deutsche Hilfe für Kinder von Arbeitslosen e.V.
Betr.: „Auf Platte wird nicht gezählt“, taz hh v. 30.1.96
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