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Still zum Surrealismusi gealtert

■ Eine Fotoausstellung mit chemisch angegriffenen, autorlosen Fundstücken aus der Zeit der Moderne

Im Jahr 1991 fanden die drei Pariser Fotografen Jean-Pierre Carbonell, Vincent Lafront und Richard Lavielle bei einem Trödler tonnenweise Fotografien der Zwanziger und Dreißiger Jahre; insgesamt mehr als zehntausend Glasplatten-Negative mit Motiven in der Ästhetik der klassischen Meister. Nach Sichtung des Funds stellte sich heraus: die Bilder sind schön, haben aber weder dokumentarischen noch soziologischen Wert. Doch mehr als das hatte sich ereignet: Ihr von der Zeit angenagter Zustand hatte ganz zufällig eine eigene, erstaunliche Form entwickelt: die Studiofotografie war zum Surrealismus gealtert.

Die Fotosammler brauchten nur mit geschultem Auge ihre Auswahl aus dem besonderen Fund zu treffen, schon war die jetzt im Institut Français in Hamburg gezeigte Ausstellung unter dem Titel Collection – Decollection fertig. Das auch für Franzosen neue Wort „Decollection“ ist dem Begriff Dekonstruktivismus nachgeschöpft und beschreibt die kreativ reduzierende Auswahltätigkeit der Fotografen.

Herausgekommen ist neben der spontan gefälligen Ausstellung eine massive Herausforderung der Kunst: Was ist, wenn sich die besseren Bilder ganz ohne Konzept von alleine erstellen? Schlimm genug, daß das Krakelee – der Alterungsprozess der Malschicht – über die Jahrzehnte auch auf den sachlichsten Ikonen der Moderne eine ungewollte Aura von Peinture verbreitet, hier ist die zersetzende Wirkung der Zeit geradezu eigenschöpferisch tätig geworden. Das ist wirklich eine harte Herausforderung der Macht des Künstlers. Was einst im Studio mühsam komponiert wurde, ist jetzt „rezentriert“, wie der Institutsdirecteur Denis Evesque es ausdrückte.

Die Zeit als Akteur – der Mensch als Schatten – das Bild als Zufall. Ist das nicht eine prima Illustration der gerade in Frankreich so intensiv bedachten Postmoderne? Der Schleier der Dame im Bild wird zum Bildschleier und Babys schweben in einer Aura gänzlicher Auflösung. Eine morbide Welt vergeblich verwalteter Erinnerungen ist entstanden, eine zeitlose Welt kurz vor dem Verschwinden, wo zwischen inszeniertem Schein und zersetzendem Material die Poesie sich in die Ritzen schleicht.

Wertfreie Chemie gibt wertende Kommentare: Dem arg klischeehaften Zuhälter gibt die Zeit einen hart ausgefressenen Rand, über dem Hochzeitspaar scheint ein Heiligenschein zu schweben und unter dem steifen Konfirmanden lauert ein Bildschichtbruch in Form einer versucherischen Schlange. Bei dem Bild einer Marmorstatue stimmt schließlich die chemische Zeit des Abbilds mit der des Abgebildeten wieder überein: die Zersetzung der Fotoschicht entspricht dem Marmorfraß durch Umweltverschmutzung. Fazit: eine kleine, aber anregende Ausstellung.

Hajo Schiff

Institut Français, Heimhuder Str. 55, Mo-Do, 9.30-12.30, 14-18 Uhr, Fr nur vormittags; bis 8. März

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