: ALAAF! HELAU! NARRI-NARRO!
■ In diesen Tagen wird Deutschland narrisch Von Phillipp Maußhardt
Der Mann wog gut zwei Zentner, schwitzte und war überglücklich. Seit acht Uhr war er auf den Beinen, hatte sich in die Uniform gezwängt und war durch die Stadt gezogen, immer hinter der „dicken Trumm“ her, hatte viele Kölsch getrunken, ein Altersheim besucht, dann war er kurzfristig in der Lounge eines Hotels zusammengesackt, bis er aus seinem Dämmerschlaf im schweren Sessel wieder erwachte und mit fester Stimme rief: „Nochnkölsch!“
So traf ich ihn: Herrn M., Oberst der Blauen Funken, 52 Jahre, Chef einer Computerfirma und wohlhabend. Auf dem Kopf trug er einen dreieckigen Hut mit blau-weißem Federschmuck, goldene Epauletten auf der blauen Jacke und weiße Gamaschen an den Ärmeln.
Er wirkte absolut lächerlich.
In jedem Tünnes steckt ein Schäl. Was vielleicht ein wenig erklärt, warum erwachsene Menschen im Rheinland so anders sind als anderswo. Richtig verstehen wird man sie aber wohl nie.
Herr M., wie gesagt durchaus honorig, schlüpft in den Tagen vor Aschermittwoch in seine komische militärische Rolle, die ursprünglich einmal dazu diente, das preußische Militär zu veralbern.
Nie wird jemand erfahren, ob er das ernst meint oder nur zum Spaß macht. Dieser Ernstspaß oder Spaßernst ist wie eine Mauer, an der jeder Fremde mit seinen Deutungsversuchen scheitert.
Herr M. würde es jedenfalls nicht verstehen, daß man sich über ihn lustig macht, und trotzdem sagt er: „Es macht mir Spaß, einmal im Jahr in eine andere Rolle zu schlüpfen.“
Um als Offizier bei den Blauen Funken aufgenommen zu werden, hört der Spaß sowieso auf. Das muß man ganz ernsthaft wollen, muß jahrelang darum bitten, muß dafür viel Geld bezahlen, muß abendelang in alten Turmgemäuern sitzen und trinken, sollte nicht vorbestraft sein, und selbst dann ist nicht sicher, ob sie dich nehmen.
Aber wenn es dann soweit ist, wenn zum erstenmal die Uniform sitzt und man als letzter Arsch der Kompanie hinterhermarschiert, „ja, dieses Jeföhl“, wie es Herr M. nennt, kann keiner verstehen. Es wird wohl nur noch übertroffen von dem noch größeren Jeföhl, einmal auf dem Wagen der Blauen Funken im Rosenmontagszug gestanden zu haben.
Wer einmal sah, wie Alice Schwarzers Augen leuchteten, als sie im Kölner Karnevalszug mitfahren durfte, der kann vielleicht nachempfinden, daß hier etwas passiert, was nicht erklärbar ist.
Insofern erübrigt sich der Versuch, nachvollziehen zu wollen, was es erst heißt, Prinz zu sein. Das Wort „Jeföhl“ reicht zur Beschreibung jedenfalls nicht aus.
„Emol Prinz zu sein, in Kölle am Rhing ...“ – das Lied aus der Saison 1992/93 vierhundertmal gesungen, dazu einbeinig auf einem Tisch gestanden, mit der Linken ein Bierglas gehalten und mit der Rechten eine rhythmische Bewegung vollzogen, dann, beim Vers, wo es heißt: „Davon hab' ich schon als kleiner Pänz jeträumt ...“, dem Nachbarn ganz nahe kommen, aber ihn nicht berühren ... Das gibt eine Ahnung davon.
Nicht berühren, jedenfalls nicht zu offensichtlich. Ein Prinzip des Karnevals, das Außenstehende oft nicht respektieren, wodurch es häufig zu Mißverständnissen kommt. Männer mußten immer schon merkwürdige Rituale erfinden, um sich berühren zu dürfen.
Die Roten Funken haben es in dieser Disziplin weit gebracht. Sie tanzen das „Stippeföttche“: stehen dabei Rücken an Rücken und scheinen ihre Hinterteile aneinander zu reiben. Scheinen! Denn ihre Arschbacken berühren sich nicht wirklich. Das ist die Kunst des Karnevals: so zu tun, als ob. Als sei man obszön.
In Wirklichkeit gibt es keine keuschere Veranstaltung als diese. Auch die schwäbisch-allemannischen Hexen (allesamt Männer), die mit ihren Besenstielen durch die Dörfer jucken und den jungen Mädchen zwischen den Beinen herumkehren – ernsthaft passiert ist da noch nie etwas.
Die närrischen Tage leben von der erotischen Phantasie und wären längst tot, wenn sie ausgelebt würde. Zigtausende junge Menschen stehen in diesen Tagen und Nächten dicht an dicht an irgendwelchen Tresen, riechen ihren Schweiß, schütten sich Bier über die Blusen, werden von immer neu hereinströmenden Menschenmassen in der Ecke des Lokals zusammengedrückt, kommen sich so nahe wie nie zuvor und nie danach, und doch und gerade deshalb ist die Zahl der Neugeburten im November im Rheinland niedriger als in anderen Monaten.
Das zu verstehen, heißt den Karneval verstehen.
Ich habe lang dazu gebraucht. Als schwäbischer Pietist sowieso. Bis ein erstes, schüchternes „Alaaf“ über die Lippen kam, brauchte es 27 Kölsch. Das war vor Jahren. Heute geht es schon nach 7. Und ich übe weiter. Denn nicht der Teufel hat den Karneval erfunden, wie Großvater behauptete, sondern der hat ihn verboten. Es ist wahr: Es gibt alte Frauen in Köln, die tragen ihr Bett zum Pfandleihhaus, um mit dem letzten Geld eine Karte für den Gürzenich zu kaufen.
Als vor Jahren in einer Kölner Kneipe ein Dieb meine Lederjacke klaute, die an der Garderobe hing, und ich ihn dabei beobachtete, aber, hilflos eingezwängt zwischen lauter tanzenden und singenden Jecken, nichts dagegen unternehmen konnte, habe ich erst wütend geschrien und dann laut gelacht.
Danach war ich nicht mehr derselbe. Es war der Initiationsritus. Seither schäme ich mich nicht mehr, daß mir Tränen kommen, wenn die Bläck Föss singen: „Jote Fründe stonn zusammen, stonn zusammen, sammmen, sammen in der Not ...“
Und ich verstehe Ernst Bloch: „Überall der gleiche Spaß (wenn auch oben viel satter genossen), das Leben als Betrieb: als Öde bei Tag, als Flucht bei Nacht. Die neue Mitte spart nicht, denkt nicht an morgen, zerstreut sich und bald alles.“ Morgen fahre ich nach Köln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen