Die endlose Odyssee der Biljana C.

Sie ist illegal in Italien. Sie bezahlte die Schlepper, die sie übers Meer brachten, wurde verkauft, zur Prostitution gezwungen. Jetzt sucht die junge Albanerin im ganzen Land nach ihrer Schwester  ■ Aus Rimini Werner Raith

Die Ankunft im gelobten Land, sagt Biljana C. und zieht die Achseln etwas hoch, „war ungefähr so, wie man sie uns vorhergesagt hatte: seekrank, durchgeschüttelt, klitschnaß und dann schnell vom Laufen durchgeschwitzt.“ Die Seekrankheit kam von dem Seelenverkäufer, mit dem die fünf Dutzend „Albanesi“ Ende 1994 aus dem einstigen Musterland des Maoismus an die Küste jenes Italien verfrachtet wurden, das sie zu Hause tagtäglich im Fernsehen wie das Land von Milch und Honig erlebt hatten.

Durchgeschüttelt wurden sie dann im winzigen Schlauchboot, in das die Schlepper sie gut fünf Kilometer vor der Küste ausgesetzt hatten, nachts und bei Temperaturen um null Grad – mit der Weisung, die Boote mindestens dreihundert Meter vor der Küste zurückzulassen und an Land zu schwimmen, bei höchstens 14, 15 Grad Wassertemperatur.

An Land „waren tatsächlich die Leute da, die uns abholen sollten“. Doch statt der erhofften warmen Kleidung und der Autos gaben die ihnen nur ein paar Telefonnummern – „die Vorwahl stand nicht auf dem Zettel, die mußten wir uns auswendig merken, falls die Polizei die Notiz fände“, und dann verschwanden die Männer im Dunkel. „Und wir liefen, so schnell wir konnten, ins Land hinein, weil sie gesagt hatten, daß wir nach einer Stunde einigermaßen in Sicherheit seien.“

So kam Biljana, damals 21, in der Nähe von Bari nach Italien. Sie gehört derzeit zu den „wandernden“ Illegalen: Sie verdient sich ihr Geld als Prostituierte dort, wo es gerade am aussichtsreichsten ist, aber gleichzeitig verbindet sie das mit einem Plan: Sie sucht ihre Schwester. Die nämlich war auch nach Italien gestartet, eine Woche nach ihr, aber es gibt bis heute keine Spur von ihr.

„Es ist der einzige Vorteil des Nuttendaseins“, sagt Biljana, „daß ich mir mein Geld überall verdienen kann.“ Das einzige Problem ist die Polizei: „Wenn mich die jetzt erwischen, können sie mich in den Knast stecken, denn neuerdings gibt es auf heimliche Einwanderung drei Jahre.“ Allerdings geht die Polizei derzeit eher behutsam mit Leuten aus Albanien um: Seit der Chef der rechtsextremistischen Nationalen Allianz, Gianfranco Fini, die Albaner für „einer großzügigen Behandlung würdig“ erklärt hat, weil sie „im Grunde Italien mehr verbunden sind als andere Länder“, schiebt man nicht mehr so leicht ab, was sich als Albaner erklärt – und darunter schmuggeln sich inzwischen auch viele Einwohner Exjugoslawiens.

Biljana zündet sich die sicher zehnte Zigarette an, seit sie als durchnäßte Anhalterin ins Auto stieg. Sie ist auf dem Weg nach Tarent – dort, hat sie erfahren, gibt es eine größere Albanerkolonie, und auch eine Caritas-Station, wo man etwas über Vermißte erfahren kann. In Rimini hatte sie auch noch eine Reihe von Aufträgen von Bekannten mitgenommen: Geld von einem Feldarbeiter, der der normalen Post nicht traut und der daher einen Sonderkurier wünscht, zwei Reisepässe, gefälscht wohl, für in Schwierigkeit geratene Freunde einer anderen Prostituierten. „Normales Leben“, sagt Biljana, „für uns ist das ein normales Leben. Man kommt auch damit zurecht.“

Für diese Einstellung hat sie allerdings viel Lehrgeld bezahlt. War die Ankunft 1994 noch in gewisser Weise realistisch vorausgesagt worden, so war allerdings, „was danach kam, absolut das Gegenteil von dem, was sie uns versprochen hatten“. Biljanas Traum war es, eine „Colf“ zu werden, „dabei wußte ich gar nicht, was dieses Wort genau bedeutet, im Lexikon stand das nicht, aber ich hatte gehört, daß es die angenehmste und sicherste Art des Geldverdienens für ausländische Frauen sei.“ Später erklärte ihr eine Freundin, daß Colf eine der italientypischen Abkürzungen ist: collaboratrice di famiglia bedeutet das, in etwa Hausangestellte. Nahezu jede dritte italienische Familie verfügt über eine Colf, meist indonesische oder philippinische Frauen. „Aber an eine solche Stelle heranzukommen“, sagt Biljana, „war wohl noch unmöglicher, als beim Papst vorgelassen zu werden.“

Dafür sorgten schon jene Leute, denen sie sich anvertraut hatte: zuerst die Schlepper aus Valona, im Süden Albaniens, dann die Leute in Italien, die an den bezeichneten Telefonnummern antworteten: Die machten spätabends einen Treffpunkt aus, verfrachteten acht oder zehn albanische Frauen in einen klapprigen Kleinbus und erklärten ihnen, wo sie sich „hinstellen“ sollten: „Einfach so: Ihr zwei geht da vorn an die Ecke, ihr anderen weiter unten auf die Straße, und laßt euch am Morgen ja nicht sehen, bevor ihr mindestens zwei Millionen Lire [umgerechnet 1.800 Mark] eingenommen habt.“

Biljana zieht den Kopf ein, als befürchte sie Schläge: „Nur eine einzige aus meiner Gruppe hatte schon mehrere Männer gehabt, die meisten, wie ich, gerade mal einen. Mit dem hatte ich acht- oder zehnmal geschlafen, und es hatte immer sehr weh getan.“ So versuchte sie beim Aussteigen davonzulaufen – und rannte direkt in die Arme eines Polizisten.

Biljana drückt ihre Zigarette aus – sie raucht keine einzige zu Ende, zieht aber immer schon die nächste heraus, wenn sie die vorige löscht, dann hält sie die neue minutenlang unangezündet im Mund. „Aber weißt du, was mir dann im Polizeiauto passiert ist? Kannst du dir wohl denken. Der Carabiniere hat mir natürlich auch zwischen die Beine gegriffen. Ich habe geschrien und getobt, da haben sie mich festgehalten, so in der Weise, daß die Brust richtig herausgedrückt wird, und allerlei scheinheilige Komplimente über meine Titten gemacht. Immerhin haben sie es aber nicht weitergetrieben. Zwei Tage danach haben sie mich nach Otranto gebracht, wo ich wieder nach Albanien zurückgeschickt werden sollte. Doch kurz vor der Abfahrt verschwanden die Polizisten wie auf Geheiß, und wir, so an die fünfzehn, zwanzig Frauen, sind wieder abgehauen. Draußen warteten sechs oder sieben Kerle, die uns regelrecht abfingen, wieder in kleine Busse stopften und in ein Haus brachten, das sie von außen absperrten.“

Am Weg zur Prostitution führte kein Weg mehr vorbei. Allerdings entwickelte Biljana ein beachtliches Talent, den Zuhältern immer wieder zu entkommen: Mehr als ein Dutzend mal ist sie getürmt, mehrmals wurde sie eingefangen und von ihrem jeweiligen Zuhälter „windelweich geprügelt“. Aber sie entkam allen doch immer wieder.

An der ionischen Küste, etwa fünfzig Kilometer von Tarent entfernt, trifft Biljana tatsächlich die erhoffte Albanerkolonie. Zuerst stößt sie auf Mißtrauen: Biljana ist eigentlich ein jugoslawischer Vorname, und Jugoslawen sind bei den Albanern grundsätzlich nicht gern gesehen – es herrscht das Vorurteil, daß sie von den italienischen Behörden geködert und als Spione eingeschleust werden sollen. Die Aushändigung der beiden Reisepässe an die – tatsächlich bald aufgefundenen – Landsleute läßt das Mißtrauen zumindest etwas abnehmen. Ein junger Mann, wohl noch nicht einmal volljährig, bringt Biljana zu der Caritas- Frau, die über die Listen Illegaler verfügen soll.

Zwei Stunden später ist sie wieder zurück, die Augen dick geschwollen; sie hat wohl sehr geweint. „Nichts“, sagt sie tonlos, „gar nichts.“ Von ihrer Schwester noch immer keine Spur. Immerhin bleibt doch noch eine Hoffnung, oder? Biljana hebt die Schultern. „Sie hat mir ein dickes Album voller Fotos gezeigt. Alles Frauen und Männer, die sie tot aus dem Wasser gezogen haben oder die inzwischen ermordet wurden. Einige sind überhaupt nicht mehr zu erkennen. Kann sein, daß meine Schwester dabei ist.“

Avni, der im Lager so etwas wie der Boß ist, faßt Biljana um die Schultern. Sie zuckt etwas zusammen – vielleicht vermutet sie hier einen neuen Aspiranten auf Zuhälterei. Doch Avni scheint tatsächlich eher Mitleid zu verspüren. „Jede Woche kommen zehn, fünfzehn Frauen wie du“, sagt er leise und auf italienisch, offenbar liegt ihm daran, daß auch ich das mithöre. „Alle auf der Suche nach Verwandten. Ich denke, jeder, der aus unserer Heimat abhaut, sollte zuallererst die Rechnung mit dem Tod machen, und die Verwandten sollten ihn aufgeben, als tot ansehen. Überlebt er, sollen sie es als ein Wunder begreifen.“ Biljana hebt einen Augenblick den Kopf, dann redet sie stockend auf albanisch mit ihm.

Enver, die „rechte Hand“ Avnis, läßt die beiden allein. „Ich denke, die wird bei uns bleiben“, sagt er, „hier ist kein Paradies, aber wenn sie eine Chance hat, heil aus dieser Lage herauszukommen, dann bei uns.“ Er bleibt stehen. „Sie wird weiter als Nutte arbeiten müssen“, sagt er und überbetont die Brutalität seines Ausdrucks so sehr, daß man erkennt, welche Schwierigkeiten er damit hat. „Glaube mir, wir hier sind nicht mit der Absicht hierhergekommen, als Zuhälter oder Gangster zu arbeiten. Wir wußten, daß es schwer werden würde. Aber wir dachten immer, daß man im Zweifelsfall wieder umkehren kann. Aber das ist unmöglich, wenn einen die Banden hier in den Klauen haben.

Die haben ihre Verbindungen bis tief hinein in die Polizei, und wenn einer dort aussagt, kann er den Sarg schon bestellen. Selbst abhauen funktioniert nicht. Wenn die noch eine Rechnung mit dir offen haben, holen die dich noch vom Schiff herunter, das dich offiziell zurückbringen soll.“ Die einzige Chance, die Enver sieht, ist, „uns eben auch zu organisieren und den Italo-Gangstern einen Teil des Marktes zu entreißen“.

Biljana kommt zurück. Sie nimmt wortlos die Koffer aus dem Auto, dreht sich kurz um und sagt noch: „Vielleicht ist das eine wirkliche Chance.“