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Leukämie auch in Allermöhe

■ Mindestens sieben neue Leukämie-Fälle / Gesundheitsbehörde blieb bislang untätig / Ursachen-Streit: AKW Krümmel oder Industrie? Von Marco Carini

„Politische Rücksichtnahme“, so vermutet der Bremer Epidemologe Eberhard Greiser, könnte „eine Rolle“ dabei gespielt haben, daß die brisanten Daten bislang unter der Decke gehalten wurden. Doch gestern abend veröffentlichte das ARD-Magazin Panorama die alarmierenden Zahlen: Im Bergedorfer Stadtteil „Neu-Allermöhe“ und in den Vier- und Marschlanden erkrankten danach seit 1990 jeweils vier Personen an Leukämie.

Die sechs Jungen und zwei Mädchen sind zwischen vier und 20 Jahre alt; sie leben zwischen sieben und 15 Kilometer vom AKW Krümmel entfernt, das seit Jahren im Verdacht steht, Ursache der Blutkrebs-Erkrankungen in der Elbmarsch zu sein. Brisant: Obwohl die Hamburger Gesundheitsbehörde (die nur von sieben Blutkrebsfällen ausgeht) seit Herbst 1994 von den Leukämien wußte, schwieg sie stille, „dringend gebotene Untersuchungen“, so der Panorama-Vorwurf, wurden „nicht in Auftrag gegeben“.

Auch Wilhelm Thiele, zuständiger Abteilungsleiter in der Gesundheitsbehörde, räumt Fehler ein: „Ich gebe zu, daß wir das vielleicht noch detaillierter und differenzierter hätten beobachten müssen.“ Unklar sei, so Behörden-Sprecherin Tordis Batscheider, ob die im Neubaugebiet Neu-Allermöhe erkrankten Personen „schon seit Geburt in diesem Siedlungsgebiet leben“ oder „die Krankheit mitgebracht“ haben. Trotz der jetzt bekannten Fälle gebe es „keine Erhöhung gegenüber der durchschnittlichen Erkrankungsrate in anderen Hamburger Bezirken“.

Dem widerspricht Eberhard Greiser, der erst vor kurzem neue Indizien für ein erhöhtes Blutkrebsrisiko in der Elbmarsch entdeckt hatte, vehement: „Ich schätze, daß wir in den Vier- und Marschlanden und in Neu-Allermöhe Häufigkeiten von Neuerkrankungen haben, die vier- bis fünfmal so hoch sind wie in Gesamt-Hamburg“.

Auch Lutz Jobst, Vorstandsmitglied der Hamburger GAL, wirft der Gesundheitsbehörde vor, die Blutkrebsfälle in der Hamburger Elbmarsch „seit Jahren zu bagatellisieren“. Jobst wörtlich: „Wir haben seit 1991 Hinweise auf eine erhöhte Leukämierate im Bergedorfer Raum“. Zwar hätte die GAL die Gesundheitsbehörde wiederholt aufgefordert, eine „qualifizierte Ursachenforschung einzuleiten“, die aber hätte „stets abgeblockt“. Jobst zur taz: „Wir wurden stets mit der Aussage beschwichtigt: Blutkrebs ist in Bergedorf kein Problem“.

Als Grund für die Verschwiegenheit vermutet Eberhard Greiser, „daß Industriebetriebe für diese Häufungen“ möglicherweise verantwortlich gemacht werden können – mit „erheblichen politischen Konsequenzen“. Denn ein direkter Zusammenhang zwischen dem AKW Krümmel und den Erkrankungen könnte, laut Greiser nicht hergestellt werden. Panorama-Autor Martin Behring gegenüber dpa: „Die Hamburger Vier- und Marschlande sind von Industrie umzingelt“. Neben dem Atomkraftwerk kämen vor allem die benachbarten Industriebetriebe, die Norddeutsche Affinerie und die Müllverbrennungsanlage (MVA) Borsigstraße als Verursacher in Betracht.

Eugen Prinz, Sprecher der „Bürgerinitiative Leukämie in der Elbmarsch“ kritisiert diese Mutmaßungen, durch die „die Rolle des Atommeiler Krümmels als möglicher Verursacher der erhöhten Blutkrebsrate heruntergespielt“ werde. Wenn Industrie und Müllverbrennung für die Leukämien verantwortlich wären, hätten diese „viel früher auftreten müssen“. Prinz weiter: „Boehringer wurde 1984 geschlossen, der Schadstoffausstoß der Affinerie und der MVA Borsigstraße kontinuierlich verringert – es ist unlogisch, daß dadurch die Leukämierate erhöht wurde“. Die jetzt bekannt gewordenen Blutkrebsfälle würden deshalb die Forderung nach der Abschaltung des Atommeilers bis zur Ursachenklärung „erneut bestärken“.

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